Bernard Haitink gehört zu den letzten großen Dirigenten der alten Schule, ein Künstler, der über ein halbes Jahrhundert die Musikinterpretation geprägt hat und immer ein bescheidener Mensch hinter dem Komponisten geblieben ist. Einen solchen legendären Musiker in der Luxemburger Philharmonie begrüßen zu können, und das gleich mit zwei Konzerten, ist schon ein Ereignis an sich., meint Alain Steffen in seiner Kritik.Mit dem ‘Chamber Orchestra of Europe’ erlebte das Publikum drei Mozart-Symphonien in ebenso wunderbaren wie schnörkellosen Interpretationen. Dazu eine Auswahl aus Gustav Mahlers ‘Des Knaben Wunderhorn’ und Richard Wagners ‘Wesendonck-Liedern’.
Bereits mit den ersten Takten der Symphonie Nr. 36 KV 425, der Linzer spürte man, worauf Haitink hinauswollte. Sein direkter und enorm packender Zugriff erlaubten keine Süßlichkeiten, keine Zerbrechlichkeit. Nein, dieser Mozart war enorm viril und virtuos. Haitink ist ein Meister der alten Schule, das heißt keine Experimente, kein Einfluss der historisch informierten Aufführungspraxis, keine modischen Aha-Erlebnisse. Haitinks Mozart lebt von der Innenspannung, von einer ganz besonderen Art der Klangdramaturgie, wie man sie heute kaum noch erlebt.
Auf diese Interpretation, die wie aus einem Guss erschien, folgten nach der Pause 12 Lieder aus Gustav Mahlers ‘Des Knaben Wunderhorn’ mit der jungen Sopranistin Anna Lucia Richter und dem Bass-Bariton Hanno Müller-Brachmann. Hier beeindruckte Haitink durch sein sehr subtiles Dirigat, das enorm viel Wert auf Nebenstimmen und kammermusikalisches Musizieren legte.
Haitink, der große Mahler-Spezialist, dirigierte enorm stimmungsvoll und zugleich sehr analytisch. Die beiden Solisten harmonierten bestens, vor allem Anna Lucia Richter mit ihrem sehr hellen Timbre und ihrem ausdrucksstarken, nuancierten und wohlklingenden Gesang war ein Ereignis. Im Gegensatz zu Christian Gerhaher, der den gleichen Zyklus (in leicht veränderter Form) zusammen mit dem ‘Chamber Orchestra of Europe’, Haitink und Anna Lucia Richter beim diesjährigen ‘Lucerne Festival’ gesungen hatte, legte Hanno Müller-Brachmann die Lieder weitaus deklamatorischer und opernhafter an. Seine metallisch-heldenhafte Stimme passte demnach perfekt zu seiner markanten Interpretation und stand der sehr lyrischen, fast zerbrechlich wirkenden Stimme von Anna Lucia Richter diametral gegenüber.
Richard Wagner war kein Liedkomponist; zudem ist die Orchestrierung seiner Wesendonck-Lieder durch Felix Mottl sehr opernhaft, was dann den Einsatz einer hochdramatischen Sopranistin durchaus rechtfertigt. Mit Eva-Maria Westbroek hatte man eine der weltbesten Vertreterinnen ihres Fachs zur Verfügung.
Die enorm kraftvolle, aber immer sensibel geführte Stimme übertönte das ‘Chamber Orchetra of Europe’ mit Leichtigkeit und füllte mühelos den großen Saal der Philharmonie. Stil, Vortrag und Gesang waren vom Feinsten und wir können mit Sicherheit sagen, dass man diese Lieder heute kaum besser singen und interpretieren kann als dies Eva-Maria Westbroek getan hat. Die ‘Wesendonck-Lieder’ wurden an diesem zweiten Konzertabend des ‘Chamber Orchestra of Europe’ unter der Leitung von Bernard Haitink von zwei Mozart-Symphonien umrahmt: Der Symphonie Nr. 35 KV 385 (Haffner) und der Symphonie Nr. 38 KV 504 (Prager). Und so sehr ich die Interpretationen von ‘Des Knaben Wunderhorn’ und den ‘Wesendonck-Liedern’ genossen habe, für mich waren Haitinks Interpretationen der drei Mozart-Symphonien der absolute Höhepunkt.
Haitinks sehr dramatische Leseart dieser Symphonien war immer gepaart mit einem Blick auf die melodiöse Schönheit, auf kammermusikalisches Miteinander und auf ein stringentes, konzentriertes und in jedem Sinne spannendes Musizieren. In Haitinks Mozart-Interpretationen, übrigens kongenial vom ‘Chamber Orchestra of Europe’ gespielt, vereinten sich Extreme zu einer tiefempfundenen, sehr starken Aussagekraft. Hier wurde Mozarts Musik zu absoluter Musik. Mit langanhaltendem Applaus und stehenden Ovationen für Bernard Haitink bedankte sich das Publikum bei diesem Dirigenten, der die internationale Musikszene über Jahrzehnte geprägt hat. Bernard Haitink und das ‘Chamber Orchestra of Europe’ bedankten sich anschließend mit einem hinreißend gespielten Scherzo aus Mendelssohns Sommernachtstraum. Und sogar bei dieser leichten Zugabe zeigte Haitink Genie. Welch ein Dirigent!