Obwohl Sergei Rachmaninov selber als nüchterner und sachlicher Interpret auch der eigenen Werke auftrat, wird seine Musik, allen voran das Zweite Klavierkonzert, mit der Romantik verbunden und er als letzter Romantiker bezeichnet. Dieser Gedanke stimmt zumindest insofern, als die Romantik neben der Betonung des gefühlvollen Ausdrucks, der Auflösung der klassischen Formen, die Erweiterung und Überschreitung der traditionellen Harmonik die Verbindung der Musik mit außermusikalischen Ideen forcierte. Das Konzert des Ural Philharmonic Orchestra unter seinem Chef Dmitry Liss zeigte diese Beziehungen besonders gut auf, meint Uwe Krusch für Pizzicato.
Wie schon Christiane Tewinkel in ihren dem Konzert vorhergehenden Ausführungen aufzeigte, sind die Einbeziehungen außermusikalischer Anknüpfungen an die Musik Legion. An diesem Abend boten die Malerei sowie die Literatur und die in Russland allgegenwärtigen Kirchenglocken und auch andere Musik, nämlich die von Paganini, Ausgangspunkte, die für Rachmaninov den Ansatz für seine an diesem Abend vorgestellten Werke boten.
Die das Programm eröffnende symphonische Dichtung Die Toteninsel, deren Anknüpfung das in mehreren Versionen existierende gleichnamige Gemälde von Arnold Böcklin ist, ist ebenso dunkel und schwer zu deuten wie die Komposition. Das Orchester und sein Dirigent ließen vom ersten Ton an eine gepflegte Orchesterkultur hören, die darauf hindeutete, dass es auch (oder gerade) außerhalb der politischen Zentren in Russland spannende Klangkörper gibt. Man wird sicherlich nicht sagen können, dass es sich um eines der ersten Orchester handelt. Aber die Vorstellung zeigte ein sehr engagiertes und aufmerksames Spiel, das von Liss mit sicherer und animierender Hand gesteuert wurde. Schon vor einem Jahr hatte er beim Philharmonischen Orchester Luxemburg seine Fähigkeiten aufzeigen können.
Dem Sujet entsprechend entfaltete das Orchester eine dunkel temperierte Klangsprache, die trotz mancher Dichte in der Komposition immer gestaltet und durchhörbar blieb. Es gab keine unförmigen Klangbreie wie beim Besuch eines ungleich bekannteren Klangkörpers aus einer nördlichen Großstadt Russlands, das die Saison eröffnet hatte. Diese Qualitäten blieben den ganzen Abend über erhalten. Dabei achteten Liss und seine Musiker darauf, die Toteninsel mit klarer Struktur zu gestalten, was ja eigentlich der Komposition im Fünfachteltakt um ein schwankendes Boot in gewisser Weise widersprüchlich ist. Doch auf diese Weise vermieden sie schlappernde, sich überlappende Konturen, so dass das Schaukeln der Wellen nicht seekrank machte.
Für den weiteren Abend hatten die Musiker weitere Gäste aus ihrer Heimat dabei. Für die Rhapsodie über ein Thema von Paganini, das der letzten der Capricen für Violine solo, griff Nikolai Lugansky in die Tasten des Solopianos. Wobei dieser Ausdruck, in die Tasten greifen, einen durchaus falschen Eindruck erwecken kann. Denn Lugansky ist ein seriös und gewissenhaft gereifter Artist, der mit seiner Persönlichkeit und seiner Ausdrucksstärke die Werke zu beleben weiß. Er ist ein Pianist, der einen dienenden Ansatzverfolgt, mit dem er die Musik und nicht sich präsentiert.
So überzeugte er mit einer raffinierten Interpretation, das sich durch ihre Klarheit auszeichnete und mit unmittelbarer Emotion ansprach. Man kann behaupten, dass Lugansky alles hat, um Rachmaninov zum Klingen zu bringen. Er vereint eine russische Seele und schürt auch das Feuer. Völlig ungezwungen blieb er natürlich, er übertrieb weder durch bloße Technik noch süffige Gefühle. Die komplexe Struktur konnte er optimal beleuchten und transparent machen. Doch er konnte auch perlende Girlanden und donnernde Virtuosität zu Gehör bringen. Finessen interpretatorischer Feinheiten kann nur ein profunder Kenner dieses Stücks so brillant präsentieren. Dass bei diesem vertrackten Werk das Orchester dann manchmal ein wenig in Verzug geriet oder abwich, fällt dann kaum ins Gewicht.
Den erfreulichen Abschluss des Abends bildete die vierzigminütige Komposition Die Glocken, die neben drei Gesangssolisten einen Chor verlangt. Mit vier Sätzen ist das Werk zugleich eine Symphonie mit Stimmen als auch eine Kantate. Die vier Sätze spiegeln den Lebenslauf, Schlittenglocken für die unbeschwerte Jugend, goldene Hochzeitsglocken, Stürme des Lebens und die Trauerglocken als Verklärung beim Ableben. Neben dem Chor, der alle Sätze begleitet, versinnbildlichen ein Tenor die Jugend, eine Sopranistin die Heirat und ein Bariton die Verklärung.
Da Orchester blieb seiner guten Spielkultur treu und Liss hatte die Zügel wieder sicherer in der Hand. So gelang die Gestaltung der Partitur sehr ansprechend. Dazu trugen auch die Sänger bei. Haben Singende meist das Problem, dass sie oft in einer fremden Sprache singen müssen, so ist besonders die russische Sprache für Außenstehende schwer nachzuempfinden. Insofern war es eine Wohltat, Muttersprachliche hören zu können. Der Philharmonische Chor von Yekaterinburg, vorbereitet von Andrei Petrenko, überzeugte mit großem Volumen und hautnahem Kontakt zum Orchester.
Die drei Solisten konnten ebenfalls mit großer Ausdrucksstärke und klarer Artikulation punkten. Den Kopfsatz bestritt Egor Semenkov, den man wegen seiner herausragenden Statur optisch eher für einen Bassisten halten würde. Aber er gestaltete seine mit unangestrengter und leichter Stimme seinen Part der Jugend ansprechend. Yekaterina Goncharova hatte die schon eher bewölkte Situation der Heirat zu schildern, den Lebensmoment, in dem man über die lange gemeinsame Zukunft nachdenkt. Mit intensivem gepflegtem Stil, der trotzdem leicht blieb. Den Abschluss hatte Yuri Laptev im Mund, der ebenfalls in unseren Breiten wenig bekannt ist, aber genauso mit gut ausgebildeter Stimme zum sehr positiven Gesamteindruck beitrug.
So erlaubte der Abend einen weitschweifenden Höreindruck in wenig bekannte Seiten des Komponisten und Pianisten, dessen zweite Werke, sowohl Symphonie als auch Klavierkonzert an Bekanntheit herausragen. Insbesondere die Glocken, die allein schon wegen der Besetzung wenig nicht alltäglich sind, waren eine lohnenswerte Hörfrucht.