Es war eine anstrengende Woche für den Dirigenten John Eliot Gardiner. Am 3. und 5. Mai dirigierte er die vier Brahms-Symphonien im Concertgebouw in Amsterdam, am Samstag dem 6. Mai das Konzert zur Krönung von Charles III, dann wieder die Brahms Symphonien in der Elbphilharmonie und anschließend in der Philharmonie Luxemburg. Für Alain Steffen berichtet.
Obwohl man John Eliot Gardiner nicht unbedingt als Brahms-Spezialisten bezeichnen kann, brachte seine Zusammenarbeit mit dem Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam doch zumindest neuen Wind in die oft abgedroschene Brahms-Welt. Die meisten von uns lieben natürlich diese Symphonien in einem satten, dunklen Klang. Ja, und auch etwas Pathos und Klangpracht dürfen nicht fehlen. Dass Gardiner als Individualist sich natürlich nicht den Klischees und den Erwartungen beugt, das wusste man schon zu Beginn. Dennoch war ich von der Interpretation der 3. Symphonie, mit der die Gesamtaufführung der Brahms-Symphonien begann, etwas enttäuscht. Der Kopfsatz wirkte auf mich recht zögerlich und schien auch tempomäßig nicht so recht zu wissen, in welche Richtung es denn gehen sollte. Die beiden Mittelsätze waren dann recht spannungslos und enttäuschend; Gardiner setzte hier zu sehr auf kammermusikalische Feinheiten, die den Fluss der Musik erheblich ins Stocken brachten. Wild wurde es dann im Finale, und endlich schien der Bann gebrochen. Dynamik, Tempi, Expressivität, alles stimmte auf einmal. Allerdings dirigierte Gardiner einen recht wilden Brahms. Die folgende 1. Symphonie besaß da sogar richtigen Sturm und Drang-Charakter, denn so schnell habe ich den Kopfsatz bisher noch nie gehört. Aber die Entwicklung des Werkes erwies sich trotz sich abwechselnder Ritardandi und Accelerandi als schlüssig. Ein schön ausformuliertes, stringentes Andante, ein charmanter 3. Satz und ein fulminantes Finale, das allem Pathos aus dem Wege ging. Doch so gut und konsequent Gardiner seinen Brahms auch offenlegte, mir fehlte das gewisse Etwas. Etwas weniger kontrolliert und harmonischer im Gesamtbild erschien mir am Folgetag die 2. Symphonie. Das Dirigat klang versöhnlicher, runder und wärmer, und der pastorale, ja fast liebliche Charakter dieser schönen Symphonie wurde in jedem Moment gewahrt. Trotzdem gelang es Gardiner immer wieder, den wilden, unbändigen Brahms herauszukitzeln. Eine wichtige Rolle in Gardiners Brahms-Bild fiel den Holzbläsern zu, die immer wieder in den Fokus gesetzt wurden. Links und rechts waren die Streicher relativ breit aufgestellt, die Kontrabässe standen sogar ganz hinten, so dass das Holz wirklich der Kern dieses Brahms-Klanges war. Und das war auch sehr schön anzuhören, zumal alle Solisten erstklassig intonierten und zeigten, wie wichtig eine gut eingespielte Holzbläsergruppe sein kann. Das Royal Concertgebouw Orchestra befand sich dann, von den ersten drei Sätzen der 3. Symphonie einmal abgesehen, in Bestform.
Der wunderbare Klang des Orchesters aber bewährte sich für mein Gefühl am besten in den Symphonien Nr. 2 und 4., also am zweiten Konzertabend. Die Interpretation der 4. Symphonie, die für mich eines der musikalischen Wunderwerke des 19. Jahrhunderts darstellt, besaß dann auch eine ungeheure Intensität. Sir John Eliot Gardiner löste sich vom pastoralen Charme der Zweiten und ließ das Publikum eine äußerst dramatische, wilde und expressive 4. Symphonie erleben. Die gutgelaunten und bestens motivierten Musiker des Concertgebouw liefen zu Höchstleistung auf. Jubel und Standing Ovations für Gardiner und das Royal Concertgebouw Orchestra gab es an beiden Abenden. Zugaben gab es leider keine.