Das Konzert, das Evgeny Kissin am Montag in der Philharmonie spielte, hatte er seiner Lehrerin Anna Pavlovna Kantor gewidmet, die am 27. Juli 2021 im Alter von 98 Jahren gestorben war. Unser Mitarbeiter Alain Steffen zeigt sich begeistert von der musikalischen Intensität, wenn für ihn auch das Gehörte nicht immer mit dem Bild übereinstimmte, das Kissin auf der Bühne vermittelte.
Was auffällt, wenn man Kissin auf der Bühne sieht, ist ein gequältes, aufgesetztes Lächeln, das scheinbar alles und nichts sagt. Denn Kissin ist vom Publikum ebenso weit entfernt wie sein Kollege Grigori Sokolov. Beide scheinen in ihrer eigenen Welt zu leben. Es scheint nur Musik für sie zu geben. Vielleicht ist diese Isolation ja auch der Preis für ihre herausragende Kunst. Kissin jedenfalls ist ein Pianist, der ohne Publicity, Marketing und Skandale auskommt. Genau wie Sokolov existiert er für das Publikum scheinbar nur am Klavier. Und das, was das Publikum in diesem Konzert in der ausverkauften Philharmonie erlebte, war höchst außergewöhnlich und sehr individuell.
Es war übrigens aber nicht das einzige Konzert, das Kissin seiner Übermutter und einzigen Lehrerin widmete. Seit Monaten spielt er in den großen Konzertsälen zu ihrem Andenken. Frau Kantor und Kissin hatten dann auch ein sehr enges, fast symbiotisches Verhältnis; die Pädagogin lebte 30 Jahre lang mit Kissin und seiner Mutter zusammen in einer Wohnung, so dass beide Frauen immer ein Augenmerk auf den Musiker hatten, den sie, wie böse Zungen behaupten, selbst erschaffen hatten. Seit seinem 6. Lebensjahr wurde Kissin von Frau Kantor unterrichtet, geführt und zur technischen Perfektion gedrillt. Mir persönlich tut er immer entsetzlich leid, wenn ich ihn auf der Bühne sehe.
Kissin begann sein Konzert mit Bachs berühmter Toccata und Fuge BWV 565, allerdings in der Bearbeitung von Carl Tausig. Tausig, der von 1841 bis 1871 lebte, also nur dreißig Jahre alt wurde, war ein polnischer Pianist, Komponist und Pädagoge. Als Musiker war er sehr von Liszt geprägt, dessen Schüler er war. Carl Tausig machte sich vor allem durch seine hochkarätigen und originellen Bearbeitungen einen Namen. Kissin konnte die Genies von Bach und Tausig mit seiner eigenen Genialtät verbinden, so dass das Publikum eine hochvirtuose, in jedem Moment packende und außergewöhnliche Interpretation erlebte. Damit war das Publikum gefangen und bereit für eine grandiose Interpretation von Mozarts Adagio h-Moll. Kissin ist erst spät zu Mozart gekommen, scheint Frische und Charme seiner Musik übersprungen zu haben, um in ungeahnte Welten vorzudringen. Mozarts wunderschönes Adagio wurde von Kissin quasi innerlich zerrissen, die melodische Linie z. T. aufgelöst, ja regelrecht zerhackt. Kissin schlug Mozart eine Wunde und vielleicht offenbarte er uns damit seine eigene, die ihm der Tod von Anna Pavlovna Kantor geschlagen hatte. Eine Amfortas-Wunde?
Kissins Interpretation von Beethovens Klaviersonate Nr. 31 op. 110 wurde zu einem atemberaubenden Hörerlebnis. Die Zerrissenheit, die das Publikum bereits bei Mozart erlebt hatte, wurde weitergeführt und genau wie bei Mozart erreichte Kissins Vision bei Beethoven eine Tiefe, die ich vorher so noch nie gehört hatte. Allein der Übergang vom zweiten Satz zur Fuge des dritten war unbeschreiblich. Die gesamte Sonate war von einer meisterlichen Rhetorik und einer kontemplativen Aussage geprägt, wie ich sie nur in ganz wenigen Konzerten gehört habe.
Nach der Pause betrat Kissin eine ganz andere musikalische Welt. Mit einer Auswahl von sieben Mazurken von Frédéric Chopin zeigte er, dass er auch bei diesem Komponisten ein Wörtchen mitzureden hat. Seine Interpretationen waren meilenweit von den plakativen Showeffekten eines Lang Lang entfernt und trafen die Essenz der Musik. Und obwohl diese tänzerischen Miniaturen nicht unbedingt große Musik sind, so machte sie doch Kissins Spiel dazu. Tiefe, Ernsthaftigkeit und ein untrügliches Gefühl für das Wesentliche verbanden sich mit einer interpretatorischen Schlichtheit und einer wunderbar schwungvollen und musikantischen Poesie.
Den Abschluss machte die berühmte Grande Polonaise brillante précédée d’un andante spianato op. 22, die noch einmal Kissins herausragende Kunst unter Beweis stellten. Auch hier gab es keine Augenwischerei, sondern ein wunderschön ausgesungenes Andante, dem eine brillant-virtuose und kunstvoll gespielte Polonaise folgte. Der Jubel des Publikums kannte keine Grenzen, so dass sich der immer noch gequält lächelnde Meisterpianist mit zwei Zugaben, Bachs Choral Nun kommt der Heiden Heiland BWV 659 in der Bearbeitung von Ferruccio Busoni sowie Mozarts Rondo in D-Dur KV 485 verabschiedete. Ob er wohl glücklich gewesen ist?