Nicht immer spiegeln Standing Ovations auch die Qualität eines Konzertabends wieder. Oft genügen nur berühmte Namen, um ein Publikum in Ekstase zu setzen, wie in diesem Falle die vom London Symphony Orchestra und Simon Rattle. Aber das, was unser Rezensent Alain Steffen am ersten der zwei Konzerte in der Philharmonie erlebte, war allerhöchstens lustlos abgespultes Mittelmaß. Tea Time statt Tea Party
Amerikanische Musik hat ihren besonderen Flair und ihre besondere Geschichte, weil sie meistens ein Mix aus europäischer Kultur, indigenen Melodien und afrikanischen Rhythmen ist. Und wenn man ein Konzertprogramm rund um das Thema amerikanische Musik zusammenstellt, dann darf natürlich George Gershwin nicht fehlen. Er war sogar mit drei Werken vertreten, zwei Ouvertüren und dem Konzert für Klavier und Orchester aus dem Jahre 1925; dazwischen waren das Auftragswerk (u.a. der Philharmonie Luxemburg und des LSO) Frenzy von John Adams und die 3 .Symphonie von Roy Harris zu hören, die auch musikalisch am besten von den Musikern und Simon Rattle bedient wurde. Gershwins Ouvertüren Let’Em Eat Cake und Strike Up the Band, beide in den klassischen Arrangements von Don Rose, fehlte es an Witz und musikalischem Einsatz, Rattle hatte sich auf einen gemütlichen Abend eingestellt und tat nur das Nötigste während die langen und gelangweilten Gesichter im Orchester die Unlust des Orchesters deutlich zur Schau stellten. Demnach spielte das LSO uninspiriert und emotionslos, aber immerhin mit der Professionalität eines Filmorchesters. Schade, denn so lief auch das komplexe und vielseitige Klavierkonzert von Gershwin nichtssagend an uns vorbei, wobei man allerdings die hochkarätige und engagierte Leistung des Pianisten Kirill Gerstein herauseben muss, der als einziger an diesem Abend wohl einen Zugang zu dem amerikanischen Feeling fand. Interessierte können sich gerne den phantastischen Live-Mitschnitt von Arturo Toscanini und dem NBC Symphony Orchestra mit Oscar Levant vom 2 März 1944 anhören: das ist Gershwin! (Auch bei Toscanini gab es damals wie heute in Luxemburg frenetischen Applaus nach dem ersten Satz).
Enttäuschend war auch von Adams Frenzy. Der Komponist bietet hier ein gefälliges und zum Teil spektakulär instrumentiertes Werk, das vor allem durch seine Gefälligkeit auffällt. Denn will man Seelenzustände wie Tragik, Panik oder Angst überzeugend darstellen – übersetzt bedeutet Frenzy Raserei – dann muss man das anders tun als Adams es in seiner publikumsnahen, aber wenig aussagekräftigen Komposition musikalisch darstellt. Auch hier begnügten sich der Widmungsträger Simon Rattle und das LSO mit einem satten, allerdings nicht besonders ausgearbeiteten und schon gar nicht akzentuierten Klang.
Die wunderbar ausgewogene 3. Symphonie von Roy Harris mit seinen pastoralen Kantilenen und seinen kraftvollen Blechbläsern überzeugt als Werk in fünf knappen, aber sehr gut ausgearbeiteten Sätzen, die die verschiedenen Stimmungen innerhalb kurzer Zeit sehr gut auf den Punkt bringen. Alleine dieses Werk schien an diesem Abend dem Mood des Orchesters zu entsprechen, so dass die Interpretation einigermaßen überzeugend geriet. Ein direkter Vergleich mit den Aufnahmen von Serge Koussevitzky, Howard Hanson oder Marin Alsop, jeweils mit amerikanischen Orchestern, zeigt aber, dass hier trotzdem noch viel Luft nach oben gewesen wäre, insbesondere was Dynamik, Akzente und Blechpräsenz betraf. Nein, für ein Orchester von noch Weltformat war das eindeutig zu wenig.
Am zweiten Abend standen dann Johannes Brahms Violinkonzert mit der Solistin Isabelle Faust sowie die dramatisch-expressive 4. Symphonie von Dmitri Shostakovich, die wir bereits vor einigen Monaten an gleicher Stelle in einer Weltklasseaufführung durch Jukka-Pekka Saraste und das Luxembourg Philharmonic hören konnten. Brahms’ Violinkonzert wurde dann recht breit und einförmig von Rattle und dem LSO eingeleitet. Auch im weiteren Verlauf bezogen die Musiker kaum Position, sondern begnügten sich mit einem wohlklingenden, allerdings wenig nuanciertem Klangbrei, der nicht so recht mitzureißen wussten. Die Akzente blieben aus, die Klangfarben matt, das Tempo behäbig, das Spiel undifferenziert. Noch einmal! Zu wenig für ein Orchester von Weltruf. Was sehr schade war, denn Isabelle Fausts Spiel wirkte dagegen wie von einem anderen Stern. Strahlend, expressiv, schlank und vor allem engagiert und voller Leben. Man konnte die Solistin auf ihrer Interpretationssuche hautnah begleiten und somit jede Feinheit, jede Überlegung, jede Farbänderung mitverfolgen. Dann folgte, letzte Chance für Rattle und sein eingeschlafenes Team, die 4. Symphonie von Dmitri Shostakovich, ein Werk, das in jedem Moment höchste Aufmerksamkeit und vollen Einsatz eines jeden Pultes verlangt. Und jetzt plötzlich waren die Musiker da! Und auch Rattle schien seine Comfort Zone zu verlassen. Plötzlich schienen sie Lust am gemeinsamen Musizieren bekommen zu haben. Und der gewaltige erste Satz ließ das Publikum dann auch erschaudern. Welche Intensität, welche Dramatik, welche Zerrissenheit! Das war das LSO, wie man es aus früheren Zeiten kannte und wie man es sich auf der Bühne wünschte. Kein gutgeöltes Filmorchester, stattdessen ein hochrangiges, um Differenzierung und Klangpracht bemühtes Ensemble, das unter Simon Rattles Leitung Außerordentliches leistete. Rattle selbst, der anderthalb Konzerte lang in sich geruht hatte, wuchs auf einmal über sich heraus und zeigte wenigstens ins dieser packenden Aufführung, dass er ein Interpret und Dirigent von Weltrang sein kann, wenn denn dann das Werk auf seine Persönlichkeit und sein Interesse zugeschnitten ist.