Zwei Konzerte mit dem London Symphony Orchestra und zwei mit dem Simon Bolivar Symphony Orchestra standen auf seinem Programm der Luxemburger Philharmonie. Alain Steffen war für Pizzicato dabei.

Für seinen 70. Geburtstag hatte die Philharmonie Simon Rattle und das London Symphony Orchestra gleich für zwei Geburtstagskonzerte eingeladen. In diesen Celebrating 70-Konzerten hatte Rattle dann auch ein gemischtes Programm zusammengestellt, bei dem zeitgenössische Musik und englische Komponisten nicht fehlen durften. Rattle ist einer der wenigen Dirigenten, die wirklich regelmäßig moderne Werke in ihre Konzertprogramme aufnehmen.

Simon Rattle
(c) Sébastien Grébille/Philharmonie Luxembourg

So verwunderte es niemanden, dass das erste Konzert am vergangenen Mittwoch mit einem Werk von Pierre Boulez begann, dessen 100. Geburtstag wir dieses Jahr feiern.  Eclats pour quinze instruments ist ein wunderbar transparentes Werk mit Improvisations-Charakter. Boulez komponierte dieses ‘Konzert für einen Dirigenten’ 1964/65 für die Mitglieder des Los Angeles Philharmonic Orchestra. In der Tat entscheidet der Dirigent in letzter Minute, in welcher Reihenfolge (I, II, II, IV oder IV-I-II-III. oder..) das Stück gespielt wird, genauso wie das Tempo oder die Intensität. Das alles ist für den Hörer kaum zu merken, bringt aber eine besondere hellhörige Dynamik ins Ensemble. Das sehr schöne, präzise und atmende Spiel der Solisten ließ einen erstklassigen Konzertabend erwarten. Dem war aber leider nicht so. Bereits beim zweiten Stück, den fantastischen Interludes and Aria (vorgetragen von der persönlichkeitsstarken Barbara Hannigan) aus der Oper Lessons in Love and Violence von George Benjamin (er feiert ebenfalls einen runden Geburtstag, nämlich den 65ten) spielte das London Symphony Orchestra zwar recht deftig, aber wenig präzise und im Gesamtklang schlecht ausbalanciert. Auch die 4. Symphonie von Johannes Brahms wurde zu einer Enttäuschung. Rattle dirigierte diese Vierte ungemein schwerfällig, ohne dabei zum Kern der Musik vorzustoßen. Viele herausgearbeiteten Einzelepisoden ließen das Werk kontinuierlich auseinanderbrechen, selbst das sehr melodisch und permanent fließende Andante verlor durch Überinterpretation seine natürliche Bewegung. Zudem kam das LSO über eine mittelmäßige und recht pauschale Orchesterarbeit nicht hinaus. Auch der als Zugabe gespielte Ungarische Tanz von Brahms wollte nicht so recht versöhnen.

Weitaus besser war der zweite Konzertabend. Das LSO wirkte hier frisch, spielfreudig und reaktionsschnell. Bereits die einleitenden Four Ritual Dances aus Sir Michael Tippets Oper The Midsummer Marriage wurden zu einem Hochgenuss und man kann sich nur fragen, warum dieses hervorragende Werk nicht öfters zu hören ist. Die Musiker agierten agil und präzise, die Klangbalance war ebenso wie die Dynamik optimal. Die Mittelmäßigkeit des ersten Konzerts war wie weggewischt.

Auch bei dem aufregenden SCO. Five Portraits for Electric Guitar an Orchestra aus dem Jahre 2019 von Mark-Anthony Turnage erlebte man außergewöhniche und sehr phantasievolle Musik. Turnage zeigte, wie gut eigentlich die E-Gitarre mit einem Symphonieorchester harmonieren kann. Solist war der legendäre Jazz-Gitarrist John Scofield, den wir vor zwei Jahren hier zusammen mit Dave Holland gehört hatten.

Nach der Pause folgte Beethovens 4. Klavierkonzert mit Krystian Zimmerman. Die Aufführung wurde dann zu einem musikalischen Fest, zumal sich Zimmerman und Rattle köstlich dabei amüsierten. In der Kadenz des 1. Satzes ließ Zimmerman das Happy Birthday erklingen, um danach wieder zu Beethoven zurückzukehren. Der polnische Pianist erwies sich auch diesmal als kongenialer Interpret dieses Konzerts, während Rattle und das LSO Beethovens Partitur mit den schönsten Klängen zu huldigen wussten. Ehe Zimmerman dann den Champagner holte und mit Sir Simon anstieß, spielte er noch eine Nocturne von Chopin. Und dies auf unvergleichliche Weise. Versteht sich.

Auch das Simon Bolivar Symphony Orchestra of Venezuela gastierte mit gleich zwei Konzerten unter Gustavo Dudamel in der Philharmonie. Vollbesetzt war der große Saal der Philharmonie, als Dudamel die gewaltige 3. Symphonie von Gustav Mahler dirigierte. Der inzwischen 43-jährige Dirigent, der immerhin schon seit 20 Jahren Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic ist und zu Beginn seiner Karriere eher argwöhnisch betrachtet wurde, hat sich inzwischen zu einem der interessantesten Dirigenten der Gegenwart entwickelt. Und für die Musik von Gustav Mahler scheint er nicht nur eine besondere Vorliebe, sondern auch ein besonders gutes Händchen zu haben. Das Simon Bolivar Symphony Orchestra ist (nicht nur ein Aushängeschild des brutalen Maduro-Regimes, Anm. der Red.), sondern auch ein Klangkörper, der mit einem ungewöhnlichen Klangpotential und einer wunderbaren Raffinesse zu beeindrucken weiß. Zum Andenken an den 2018 verstorbenen Abreu dirigierte Gustavo Dudamel zwei kurze Madrigale von Abreu, der auch als Komponist tätig war, die wunderschön vom Choeur de l‘Orchestre de Paris-Philharmonie gesungen wurde.

Gustavo Dudamel
Photo: Mathew Imagaing

Danach erlebte das Publikum eine in allen Hinsichten ergreifende Interpretation der 3. Symphonie von Gustav Mahler. Bereits in einem atemberaubenden, aber sehr düster musizierten Kopfsatz gelangen Dudamel und seinem Bolivar Orchestra eine überzeugende Interpretation. Trotz der vielen Naturelemente sollte die ernsthafte Stimmung permanent die Überhand behalten und in einem ebenso schönen wie ergreifenden Finale gipfeln. Nach bereits vier gespielten Konzerten, davon je zwei  in Paris und London, ließen sich allerdings einige Ermüdungserscheinungen im sonst klanglich phantastischen Blech ausmachen. Da klang etliches zögerlich und unpräzise. Auch das Posthornsolo blieb von einigen Kieksern nicht ausgespart. Aber das ist menschlich und trübte den hervorragenden Gesamteindruck nicht. Ansonsten begeisterte das Orchester mit seinem satten und warmen Streicherklang und einem hier extrem präzisen Spiel. Und zum Gelingen dieser Aufführung trugen ebenfalls die exzellente Mezzosopranistin Marianne Crebassa, die Pueri Cantores du Conserrvatoire de la Ville de Luxemburg und der Choeur de l’Orchestre de Paris-Philharmonie bei. Beim Schlussapplaus zeigte sich Gustavo Dudamel als primo inter pares und nahm keinen Einzelapplaus entgegen. Bescheiden und sympathisch blieb er inmitten seiner Musiker stehen.

Auch im zweiten Konzert erlebte das Publikum große Musik. Am Vortag war schon aufgefallen, wie uneigennützig Gustavo Dudamel auftrat. Auch sein Dirigat ist klarer, analytischer geworden und seine Zeichengebung ist extrem präzise und unaufgeregt. Das ermöglicht den Musikern ein sicheres und kohärentes Spiel. Natürlich waren die beiden Werke der ersten Halbzeit ein Heimspiel für die Venezuelanischen Musiker, denn mit Ricardo Lorenz und Gonzalo Grau hatte man zwei venezolanische Komponisten mit im Gepäck. Und deren Musik hatte es in sich. Zuerst das effektvolle, rhythmische Todo Terreno von Ricardo Lorenz (*1961), was mit „auf jedem Gelände“ übersetzt werden kann. Die Musik ist heftig und folgt keiner regulären Spur, führt uns aber phantasievoll und mit vielen phantasievollen Effekten gespickt, auf off road-Pfade. Mich erinnerte die Musik aber vielmehr an die Hektik eine Großstadt mit ihrer permanenten unregelmäßigen, nie nachlassenden und pulsierenden Energie. Ein musikalischer Leckerbissen für das Simon Bolivar Symphony Orchestra, das diese Musik mit einer Kraft und Dynamik spielte, die einem quasi die Ohren vom bliesen.

Eher friedvoll war das folgende Werk von Gonzalo Grau (*1972). Odisea beschreibt eine fast kontemplative Reise von der Ost-Küste Venezuelas zum Landesinnern. Während dieser Reise  erlebte das Publikum zusammen mit dem phänomenal spielenden Jorge Glem auf der Cuatro die verschiedenen traditionellen  Musikstile, die die Kultur dieses Landes prägen. Mal rhythmisch akzentuiert, mal nostalgisch, Glems Spiel war fantastisch und genau so aufregend wie Graus Komposition. Der riesige Jubel für den Solisten und den anwesenden Komponisten war in beiden Fällen mehr als gerechtfertigt. Glem spielte eine sehr originelle Improvisation als Zugabe, in der er venezolanische Rhythmen mit Zitaten von Bizet, Tschaikowsky oder Beethoven verzierte; dies natürlich mit überwältigender Spieltechnik.

Nach der Pause machten das Simon Bolivar Orchester und Gustavo Dudamel Tchaikovskys 4. Symphonie zu einem wahren Spektakel und siehe da, die Musik vertrug das sehr gut. Wir sind ja so an die überlegten, oft emotionsverhaltenden Interpretationen europäischer Orchester und Dirigenten gewohnt, dass es wirklich guttat, einmal eine andere, frische Sicht auf ein vielgeschundenes Schlachtpferd wie diese 4. Symphonie zu erhalten.

 

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