Simon Rattle
(c) Sébastien Grébille/Philharmonie Luxembourg

Sir Simon Rattle und das London Symphonie Orchestra kommen regelmäßig zu Besuch nach Luxemburg. Jetzt hatten sie an zwei Abenden die beiden letzten Symphonien von Gustav Mahler im Gepäck. Am zweiten Abend konnte Uwe Krusch miterleben, wie die unvollendet gebliebene Zehnte Symphonie dargestellt wurde.

« Die Musik, die sie gleich hören werden, ist nicht von Gustav Mahler. » Wenn nur ein Mahler-Werk, nämlich die Zehnte Symphonie auf dem Programmzettel steht, kann man bei so einer Bemerkung irritiert sein. Zumal, wenn sie im Einleitungsvortrag von Steven Vande Moortele gemacht wird. Dieser in Toronto lehrende Professor wusste in einem frei vorgetragenen Referat äußerst kurzweilig, wenn es anfangs auch nicht so erschien und dabei thematisch sehr bewandert, die Besonderheiten dieses Werks darzulegen. Denn diese Symphonie konnte Mahler nicht mehr vollenden. Es bedurfte mehrerer Anläufe, um die Version, die heute meistens aufgeführt wird, zu erschaffen. Vom ersten und dritten Satz gab es noch einigermaßen vollständige Partiturentwürfe, von den anderen dreien nur Particells, die aber trotzdem eine begehbare Welt vorzeichnen. Erst ein Team um Deryck Cooke, auch mit dem Komponisten Berthold Goldschmidt, schuf ein halbes Jahrhundert später eine von ihnen sogenannte Spielfassung. Außerdem gab der Referent Hinweise zum Aufbau. Wie gesagt, mit dieser Einführung mit Tonbeispielen hatte der Abend schon hervorragend begonnen.

Kennt man diese Vorgeschichte ein wenig besser, versteht sich auch die Bemerkung im Vorgespräch besser. Vande Moortele hatte auch eine Entwurfsseite gezeigt, bei der Teile von Mahler wieder gestrichen worden waren. Rechnet man das von einer Stelle auf das ganze Werk hoch, kann man sich ausmalen, dass es bestenfalls eine Annäherung sein kann, denn anderenorts fehlen alle Hinweise, weil Mahler es eben nicht mehr ausführen konnte. Das hier ist nicht das Forum, um das Für und Wieder eines solchen Vorgehens zu diskutieren. Man sollte sich der Ungewissheiten bewusst sein und dann einfach genießen. Oder nicht? Natürlich ist diese Musik nicht zum Genuss geeignet, um im Sinne vergnügungssüchtigen Geplätschers nebenbei gehört zu werden. Dazu ist sie zu vielschichtig, tiefgründig, vielleicht auch mitunter brutal. Denn bisher ist eine andere Ebene, die auch für dieses Werk eine Rolle spielt, noch nicht angeklungen. In den Entwürfen finden sich zahlreiche Anmerkungen zu seiner Frau Alma inklusive des Kosenamens Almschi, die die tiefe Verzweiflung über den Verlust seiner Frau an Walter Gropius ausdrücken. Solche Seelenschreie kommen beispielsweise in dem Neuntonakkord mit anschließendem Trompetensoloton vor, der sowohl im ersten als auch im gespiegelten fünften Satz auftaucht und im ersten Satz keine und im letzten vielleicht eine Auflösung bringt – oder auch doch nicht.

Anknüpfend an den Vorabend gelang es den Musikern, den Noten von damals eine heutige Sicht beizugeben. Wie immer ist jede Symphonie von Mahler die Beleuchtung einer ganzen Welt. Dem zweiten Satz, einem Scherzo, das wild und kraftvoll alles über den Haufen wirft, folgt der kurze Mittelpunkt der Symphonie. Auch wenn er sich ‘Fegefeuer’ nennt, so erscheint er fast simpel und stellt damit auf die Läuterung ab, der dann im vierten Satz, dem spiegelbildlichen Aufbau geschuldet, wieder ein Scherzo, das mit seiner seelischen Bedrängnis und gleichzeitigen Ländlermentalität spielt, bis er mit einem Schlag endet.

Mit all den herausragenden instrumentalen Leistungen dieses Spitzenorchesters und einem auswendig dirigierenden Rattle war ein Leichtes, diese Vielfalt der Stimmungen und Bilder im Ohr des Publikums zum Bersten zu bringen. Neben intensiven, wenn nicht zerschmetternden Lautstärkeausbrüchen im ganzen Orchester boten vor allem die Streicher, wie bereits am Beginn die Bratschengruppe, überbordend intensive Passagen, die sowohl selig schön als auch auffahrend spitz ankamen. Die Holzbläser in einer mahlerisch groß ausgeweiteten Besetzung wie etwa mit Bassklarinette und zwei Kontrafagotten überzeugten mit harmonisch ausgehorchten Klängen ebenso wie mit feinen Soli. Neben dem prachtvoll runden Blechbläsersound mit exquisiten Hörnern sind bei so einem Werk natürlich nicht die Schlagzeuger zu vergessen, die an entscheidenden Stellen die Akzente oder Absprünge für den Fortgang des Werkes setzen.

Dass es gelang, alle diese Facetten und Elemente trotz aller gewollten Zerrissenheit zu einem Ganzen zu verbinden, ist dem stets intensiven, aufmerksamen und dem Orchester statt der Partitur zugewandten Dirigat von Rattle zu verdanken, der neben der klaren Zeichengebung auch mit einer wandelbaren Mimik seine Vorstellungen artikuliert.

 

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