Trotz Brexit sind das London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle immer wieder zu Besuch in der Luxemburger Philharmonie. Bei diesem Gastspiel hatten Rattle und das LSO auch den gleichnamigen Chor und vier Solisten mitgebracht. Wie dieses in jedem Sinne vielstimmige Zusammenwirken geklungen hat, weiß Uwe Krusch für Pizzicato zu berichten.
Am Anfang des Abends durfte das Auditorium das Violinkonzert dem Andenken eines Engels von Alban Berg mit der Solistin Lisa Batiashvili erleben. Trotz seiner Gestaltung in der Zwölftontechnik erfreut es sich einer anhaltenden Beliebtheit, was auch mit dem programmatischen Kontext, der in der Widmung `Dem Andenken eines Engels´ zum Ausdruck kommt, verbunden ist. Ein weiteres mag dazu beitragen, dass die Ganztonfolge des Beginns des Chorals `Es ist genug! Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus!´ von Johann Sebastian Bach sich in die von Berg gewählte Tonfolge des Konzertes in Terzen einfügt.
Lisa Batiashvili gelang es zusammen mit dem Orchester Leiden und Sterben von Manon Gropius klangmalerisch zu gestalten. Mit ausdruckstarken Spiel schuf sie ein Portrait des sterbenden Kindes. Schon anfänglich markierte sie die Verzweiflung einem Aufschrei ihrer Geige über einem feinen orchestralen Gespinst und vermittelte schon zu Beginn einen Moment Ergriffenheit. Aber auch unbeschwerte Kindheitserinnerungen kamen in der von Berg mit einem an ein Kärntner Volkslied angelehnten Passage ebenso zum Zuge. Im zweiten Satz setzte dann das schmerzvolle Sterben mit einem gewaltigen Zwölftonakkord der Geige an. Mit expressiven Spiel und technisch überwältigend widmete sich Batiashvili dem Schicksal und macht es damit zu ihrem und unserem. Mit äußerster Wandlungsfähigkeit bewegten sich die Solistin und das von Rattle fein abgestimmte Orchester miteinander. Alle Beteiligten beherrschten die Materie so überlegen, dass am Ende doch auch ein wenig der Hauch von Neutralität aufkam.
Die Zugabe von Lisa Batiashvili mit den zupfenden Streichern des Orchesters war dann im sich schließenden Kreis wiederum Bach gewidmet, nämlich einem Satz aus der Kantate `Ich steh mit einem Fuß im Grabe´, führte dann in ruhigen Bögen sozusagen in einen betenden Nachklang zu Berg.
Das etwa doppelt so lange zweite Werk des Abends war dann ein deutlich unbekannteres eines wesentlich beliebteren Komponisten. Rattle hatte zum Beethovenjahr das Oratorium `Christus am Ölberge´ ausgesucht. Auch dieses Werk, übrigens die einzige geistliche Passionsmusik von Beethoven, ist eine Form der Auseinandersetzung mit dem Tod und damit auch der Endlichkeit, die somit die beiden Werke verbindet. Das LSO wurde nun seinem hauseigenen Chor sowie drei Gesangssolisten begleitet. Das Oratorium zeichnet sich durch besondere Merkmale aus. Dazu gehören etwa die Besetzung des Christus mit einem Tenor, wo ein Bass zu erwarten gewesen wäre, und dem stimmlich darüber fliegenden Engel, dem Seraph, mit einem Sopran. Ein anderes ist die opernhafte Ausgestaltung, die mit dem Gesang des Engels an die Königin der Nacht bei Mozart erinnert. Neben diesen für Beethoven genauso überraschenden wie ausgefeilten Mitteln überzeugt dieses wenig beachtete Werk mit geschlossener Struktur und frischem Klang.
Allen Beteiligten gelang eine mitreißend gestaltete und technisch souverän umgesetzte Darstellung mit Feuer und Engagement, die das Werk in ein überzeugendes Licht tauchte. Dass das Orchester zu den ganz besonderen auf dieser Welt gehört und diese Qualität auszuspielen wusste, ist nicht neu. Doch auch der London Symphony Chorus mit seinen rund 120 Mitwirkenden glänzte mit Beweglichkeit, Sensibilität, Kraft und überwältigender rhythmischer Sicherheit und Aufmerksamkeit und trug auf seiner Seite wesentlich zum Gelingen bei.
Die Solisten glänzten nicht minder. Elsa Dreisig als Seraphim verfügt sozusagen über eine engelsgleiche Breite an Möglichkeiten, mit denen sie die Linien der Stimme des Himmels farbenreich tuscht und sich hineinvertieft, wie man auch an ihrer Mimik ablesen kann. Der Tenor Pavol Breslik lebt seine Rolle des Christus ebenfalls von der ersten bis zur letzten Note aus. Ausgestattet mit idealer Stimme fühlt er sich bei der Deklamation ebenso wohl wie in den gesungenen feineren Linien seines Parts. David Soar erdete den kleinen Part des Petrus mit seinem tiefen Bass.
Den ganzen Abend über durfte man die Transparenz der Interpretation genießen. Daran hatte Rattle mit sowohl gezielt leitender als auch anregend gestaltender Hand und immer ungebrochener Aufmerksamkeit einen nicht zu geringen Anteil. Somit wurde das Publikum mit bewegten Herzen und gepflegten Hörerlebnissen in den Sonntagabend entlassen.