Wie Orchesterqualität auch ohne instrumentalen Solisten begeistern kann, konnte das Publikum am Sonntagabend im großen Saal der Philharmonie zusammen mit Pizzicato-Mitarbeiter Uwe Krusch hören. Zu Gast waren das ‘London Symphony Orchestra’ mit Simon Rattle.
Simon Rattle dirigierte die beiden Werke des Programms, die sechste Symphonie von Anton Bruckner und die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von Bela Bartok auswendig.
Wie aus dem Nichts schälte sich in Tippelschritten die Melodie aus der Stille. Damit eröffnet der erste Satz von Bartoks Musik den Abend. Das Fugenthema ist die Keimzelle des gesamten Werkes, die als klingender Bogen für Auf und Ab des Lebens steht. Man kann es als Wiedererwachen nach einer Katastrophe verstehen. Dieses Leben kommt näher und näher, bis die menschliche Leidenschaft dazukommt. Dieser Anfang gehört zum Besten, was Bartok je geschrieben hat. Die gedämpften Bratschen sind diejenigen, die diesen Beginn markieren. Fugenähnlich folgen die Themeneinsätze, bis der Spannungshöhepunkt erreicht wird. Danach folgen Einsätze in der Umkehrung, bis die Grundtonart im Pianissimo wieder erreicht ist. Ein zwingendes, faszinierendes Stück Musik von einer geistigen Verdichtung, die das Transzendente streift.
Die Musiker des LSO, in diesem Konzert mit einem Gast als Konzertmeister, der sonst in dieser Position in Liège und anderweitig agiert, vertieften sich ohne Aufwärmphase in diese dichte und herausfordernde Musik. Bei der Vergabe des Kompositionsauftrages war Bartok gebeten worden, die technischen Schwierigkeiten überschaubar zu halten. Dazu meinte der Komponist selber, « technische Schwierigkeiten werde ich wohl möglichst vermeiden können; schwieriger ist aber die Vermeidung rhythmischer Schwierigkeiten. Wenn man etwas Neues schreibt, so stellt das bloß wegen der Ungewohntheit bereits Schwierigkeiten an die Ausführenden.“ Wenn man dann das Ergebnis hört, dann wird man das jedenfalls auf Anhieb nicht nachvollziehen können. Allein schon die Aufteilung in zwei Streichorchester, deren Anordnung von Bartok vorgegeben war und die man auf der Bühne spätestens im Vergleich zum zweiten Programmteil leicht erkennen konnte, ist neben dem in der osteuropäischen Volksmusik inspirierten rhythmischen Vielfalt eine der vielen Herausforderungen des Werkes.
Die Streicher dieses Orchesters lösten alle diese Ansprüche mit einer hellwachen und selbstverständlichen Souveränität ein, die jedem Zuhörer den Atem verschlagen müsste. Dass das nicht immer so ist, merkte man spätestens zwischen den Sätzen, wenn die Hustenorgien aus dem Auditorium zuschlagen.
Die markante Rhythmik der osteuropäischen Volksmusik mit dem ihr innewohnenden Zauber macht Bartok sich zu Eigen und formt daraus seine eigene, unverwechselbare Musiksprache.
Mag der erste Satz elaboriert wirken, so ist der zweite Satz von großer Unmittelbarkeit. In Sonatenform und mit wiederum raffinierter Rhythmik mit reizvollen Anklängen an die Themen der beiden Ecksätze fällt der Wechsel zwischen ‘pizzicato’ und ‘arco’ bei den beiden Streichergruppen auf. Die Schlagwerkgruppe beginnt dann geheimnisvoll mit Xylophon und Pauken den dritten Satz, so dass hier impressionistische Einflüsse spürbar werden, die eine aparte Klangpalette von größter persönlicher Eigenart ergeben. In ungestümer Musizierlust beginnt das Finale. Stampfende Rhythmen mit vitalem und aggressivem Musizieren erzeugen einen Zusammenklang von ungarischer Volks- und Kunstmusik in Vollendung, wie er nur Bartok möglich war.
All das und noch viel mehr konnte man aus dem Spiel des London Symphony Orchestra erkennen. Die Musiker durften sich dabei auf eine nicht nur mit den Händen, sondern sie auch mimisch unterstützende Gestaltungsanleitung durch Simon Rattle verlassen, der wirklich zwischen der rechten, den Verlauf und Tempi anzeigenden Hand und der interpretatorische Hinweise gebenden Linken zu unterscheiden und gestalten wusste. Das Zusammenwirken der Musiker war so ausgefeilt, dass man meinen konnte, sie hätten diese Hilfestellung gar nicht gebraucht. Aber wenn sie ohne den Dirigenten auskommen müssten, würde man wohl doch die Unsicherheiten bemerken.
Eine bemerkenswerte Aufführung, die ihresgleichen lange suchen muss.
Nach der Pause war das Bühnenbild dann wieder ein beinahe gewohntes, wenn man die im Hintergrund aufgereihten Bässe und wenige andere ungewohnte Anordnungen einmal beiseitelässt. Mit der sechsten Symphonie von Bruckner, eher ein ungerechtfertigtes Stiefkind im Aufführungs- und Publikumsinteresse durften dann auch die Bläser, voran die famose Blechgruppe, die Muskeln spielen lassen.
Dieses Werk des Meisters aus St. Florian hat Vorteile. Es ist relativ kompakt, es gibt keine Versionsfragen zu entscheiden und die möglicherweise aus dem simplen Entstehungsprozess begründbare Geschlossenheit der Gestalt mit naturhaftem Schwung, singenden Linien und stolzen Rhythmen geben ihr ein eigenes, jedenfalls nicht minderes Gewicht zu den anderen Kreationen dieses Genres von Bruckner. Der Komponist selber sah sie als keck an.
Rattle und das LSO formten in der Stunde der Symphonie eher eine ausdrucksstarke Mittelgebirgslandschaft als ein alpines Szenario. Leise Stellen wurden wirklich zurückgenommen und boten dadurch die Möglichkeit, laute Passagen nicht überreizen zu müssen. Die Bläser unterstützten diesen Ansatz mit sonorem Goldklang anstelle eines namensgebenden blechernden Dröhnens. Die markanten Streichermotive werden mit genauer, aber nicht spitzer Formulierung des Rhythmus dargestellt.
So gestalteten die Musiker das Werk mit großen Ton, aber nicht monumental, so dass ihm die Schwere genommen wurde, was wiederum die Schau auf kleinste Partikel von kanonischen Engführungen oder Spreizungen und Verkürzungen in Rhythmus und melodischer Natur erleichterte. Das ist eine andere Herangehensweise, als die, für die etwa Günter Wand steht, aber gerade auch dieser Symphonie steht sie.
Frisch wie zu Beginn verabschiedeten sich Orchester und Dirigent am Ende dieses bemerkenswerten Gastspiels, obwohl sie ein sowohl körperlich als auch geistig sehr forderndes Pensum absolviert haben. Mancher Zuhörer mag erschöpfter gewesen sein bei so vielen an sein Ohr gelangten Tönen. Aber auch positive Erschöpfung erzeugt größte Zufriedenheit.