Im Sport wird ein Spieler, der erst spät in die Partie einsteigt und dann ein wichtiges Tor erzielt, gern als Joker bezeichnet, der gestochen hat. Ob Thomas Guggeis als Vertreter des erkrankten Daniel Barenboim diesen Titel im Konzert der West-Eastern Divan Orchester in der Philharmonie Luxemburg verdient hatte, beschreibt Uwe Krusch.
Zunächst muss ich leider auf einen in letzter Zeit öfter vorkommenden Missstand hinweisen, nämlich akustische Belästigung durch Hörgeräte. Fast während des gesamten Abends piepte unerträglich nervend etwas. Eine technische Ursache seitens der Philharmonie kann man ausschließen, so dass man vermuten muss, dass mal wieder ein Hörgerät falsch eingestellt war. Es ist sehr gut, dass es Hilfsmittel für das bei Älteren schwächer werdende Gehör gibt. Aber ich kann wirklich nicht verstehen, wieso es nicht möglich ist, diese Geräte zu justieren. Früher war das schwierig, aber heute sind diese Geräte doch ausgefeilt. Seit der Wiederaufnahme des normalen Konzertbetriebs war das schon der wiederholte Fall. An frühere Fälle in Luxemburg kann ich mich nicht erinnern. Jetzt scheint es der Träger des Gerätes nicht zu bemerken oder es interessiert ihn nicht. Und etwaige Begleiter oder Sitznachbaren kehrt es augenscheinlich auch einen Dreck. Das ist asozial. Alle Besucher sind genervt, das sah und hörte ich an diversen Reaktionen. Und diese Reaktionen gab es übrigens auch auf der Bühne. Denn wenn man bedenkt, dass Töne nicht nur von der Bühne ins Auditorium schweben, sondern auch andersherum, dann ist es umso bemerkenswerter, dass das Orchester bei dieser massiven Störung überhaupt noch einen sauberen Ton spielen konnte, der untergründig immer die Harmonien zerstört.
Es war nicht das erste Mal, dass Guggeis kurzfristig Aufführungen übernahm. So hatte er 2018 von Christoph von Dohnanyi die Leitung der Oper Salome von Richard Strauss an der Staatsoper Unter den Linden übernommen, wobei er als Dohnanyis Assistent die Umstände gut kannte. Hier war der Fall anders gelagert, denn Guggeis’ Zeit als Assistent von Barenboim liegt schon zurück.
Auf dem Programm stand ein Zyklus mit sechs Teilen, nämlich Ma Vlast, also Mein Vaterland, von Bedrich Smetana. Der zweite Abschnitt ist vermutlich der meistgespielte und bekannteste, nämlich Vltava, also die Moldau.
Das West-Eastern Divan Orchester ist eine Gemeinschaft zwischen Menschen, bei denen ein gutes und vertrauensvolles Miteinander funktioniert, auch wenn die politischen Führungen der Herkunftsnationen der Musiker kein Miteinander finden (wollen).
Im Konzert spielten die Musiker die Sätze des Werkes ohne Pausen. Dadurch wurde eine große Intensität erzielt. In den etwa zwei Jahrzehnten seines Bestehens hat das Ensemble ein gutes Niveau erreicht und überträgt seine Begeisterung auch weiterhin ins Spiel. Mag man auch den letzten Schliff in Einzelleistungen, verglichen mit den viel länger bestehenden Orchestern, vermissen, so kann man doch auch keine wirklichen Schwachstellen erkennen.
Guggeis begann das aus Sagen, Geschichte und Natur inspirierte Werk wie vorgegeben mit Vysehrad, dem Bild der mittelalterlichen Burg auf dem Felsen an der Donau. Ausgehend von einer majestätisch sich entfaltenden Einleitung wurde die reiche Geschichte des Bauwerks mit Feiern und Schlachten erst nach und nach lebendig. Ähnlich vielschichtig hatte er den ganzen Zyklus angelegt, so dass insbesondere auch im zweiten Teil, der Moldau, alle komponierten Wegmarken des Flusses hörbar wurden. Um zum Vergleich mit dem Sport zurückzukehren, Guggeis füllte seine Jokerrolle mit Inspirationen für das Spiel und dezidierten Vorlagen für die effektvollen Einsätze.
Mit einer vielschichtig agilen linken Hand sorgte Guggeis dafür, dass neben dem rechts geschlagen Takt, auch einzelne Musiker oder Stimmgruppen immer ihren Einsatz bekamen, um mit der nötigen Akkuratesse oder Intensität diese Stelle heraus zu modellieren. So hatte er Werk und Orchester sicher gestaltend in den Händen und schuf in den etwa 75 Minuten Dauer das Panorama an nationaler Sicht, das Smetana mit der Komposition wohl hat abdecken wollen. Dass ein multinationales Orchester die national belegte Musik einer ganz anderen Region spielte, war da kein Problem.