Mehr als eine simple Würdigung ist diese substantielle Box, die Etcetera zu Yuri Egorovs 60. Geburtstag veröffentlicht, es ist ein Schatz der ganz besonderen Art. Doch zunächst vielleicht einige Informationen zu Egorov, der heute gar nicht mehr so bekannt ist. Der am 28. Mai 1954 in Kazan geborene Pianist gewann 1971 den 4. Preis im Marguerite Long-Jacques Thibaud Wettbewerb. Eine Bronze-Medaille bekam er 1974 im Tchaikovsky-Wettbewerb in Moskau und 1975 im ‘Concours Reine Elisabeth’ in Brüssel.
1976, während eines Gastspiels in Italien, entkam er seinen Aufpassern und erhielt schließlich in den Niederlanden politisches Asyl. Dort lernte er den Architekten Jan Brouwer kennen, der sein Lebenspartner wurde.
1977 nahm er an der ‘Van Cliburn Competition’ in Fort Worth teil, …und als sein Name nicht auf der Gewinnerliste auftauchte, bildete sich spontan im Publikum ein Unterstützungskomitee, das im Nu so viel Geld gesammelt hatte wie der Erste Preis ausmachte, nämlich 10.000 Dollar. So wurde Egorov inoffiziell zum zweiten 1. Preisträger.
Egorov machte danach eine brillante Karriere in den USA, aber auch in Europa, nahm zahlreiche Schallplatten auf und galt als eine der größten Pianisten-Persönlichkeiten seiner Zeit. Egorov starb im jungen Alter von nur 33 Jahren an den Folgen von AIDS.
Es gibt in der Box viele sehr gute Beispiele für das, was der amerikanische Kritiker Schonberg « a free, romantic style » nannte und womit er erklärte, dass Egorov eigentlich vor keiner Wettbewerbs-Jury bestehen konnte, weil er eben zu frei interpretierte. In dieser Hinsicht muss die Aufnahme der Paganini-Rhapsodie als absolut sensationell gelten. Was Egorov darin an schier unfassbarem Tanzschwung produziert, ist phänomenal. Es wäre gefährlich, sein Spiel in diesem Stück als zirzensisch zu bezeichnen, weil man glauben könnte, es sei nicht musikalisch. Aber es ist gerade das: musikalisch in einem Sinn von rhythmischer Empfindung und musikalischer Lust, ohne jeden Hintergedanken von Show.
Nicht weniger phänomenal ist Egorov in Tchaikovskys 3. Klavierkonzert (in der dreisätzigen Fassung), das bis heute wohl keinen besseren Anwalt hatte.
Bleiben wir bei den Orchesteraufnahmen: Im 3. Beethoven-Konzert zeigt Egorov, dass er sich in diesem Repertoire genau so wohl fühlt wie anderswo und genau so überlegen spielt, immer sehr persönlich, aber immer ohne jeden Showcharakter, aus musikalischem Urgefühl heraus. Während das Erste Brahms-Konzert sehr packend geraten ist, gibt es im Zweiten einen Mangel an Poesie und an gefühlvoller Kraft. Vielleicht war dem seismographisch reagierenden Pianisten ja vor dem Konzert ‘etwas über die Leber gelaufen’…
Doch hören Sie sich den 2. Satz aus dem Brahms-Klavierquintett an, und spüren Sie, wie Egorov seine Streicherkollegen in den Dialog zwingt, sie in seine Gefühlswelten mit nimmt. « I declare openly that I am very, very sensitive », schrieb Egorov in sein Tagebuch. In seinen Interpretationen sagte er das ohne Worte, aber mit Musik, immerfort. Das Brahms-Quintett hat man gewiss forscher, mitreißender gehört, aber wohl selten so differenziert, so feinfühlig. Das gilt ebenfalls für Schuberts Forellenquintett, in dem Egorov selbst mit einem instrumental nicht immer wirklich guten ‘Orlando Quartet’ eine packende Stimmung erzeugt, gleich schon in einem ersten Satz, der viele Fragen aufwirft und genau wie das nachfolgende Andante streckenweise unheimlich wirkt in seiner gestalterischen Tiefe.
Wie soll man seine Bewunderung ausdrücken für seine Schubert-Sonaten und seinen brillant zusammengeschweißten Schumann-Carnaval, für die schier unglaubliche Ausdrucksvielfalt der Chopin-Etüden op. 10, wie kann man diese nicht auf pianistische Wirkung, sondern auf Expressivität ausgerichtete Interpretationen anders beschreiben als mit dem Wort ‘magisch’, weil Egorov die Doppelseelenromantik dieser Komponisten ungemein feinfühlig erspürt und mitteilt. Pure Klavier-Poesie ist das!
Yuri Egorov was certainly one of the finest and most poetic pianists ever. The live recordings in this box show his easy technical authority as well as his incredibly sensitive, though intense playing which has great colors, enormous breadth and an always surprising freedom.