Etienne Nicolas Méhul, Portrait von Antoine Gros

Einen Vorhang gibt es nicht im ‘Théâtre des Bouffes du Nord’ in Paris, wo Peter Brook Theatergeschichte schrieb. Die riesige Bühne, bar jeder Theatermaschinerie, wird vom Zuschauer mit einem Blick erfasst, bis auf die hintere, dunkelrot leuchtende Mauer. In diesem Ambiente eines heruntergekommenen, verwitterten Theaters begann am vergangenen Freitag, 29. Mai, das diesjährige ‘Festival Palazzetto Bru Zane’ in der französischen Hauptstadt.

Das Festival ist ganz ‘made in Venice’, wo das ‘Centre de musique romantique française’ beheimatet ist und Programme aus diesem Repertoire konzipiert, von dem es laut dem wissenschaftlichen Leiter, Alexandre Dratwicki, noch Tausende von unbekannten Werken gibt.

Den Auftakt machte, unter dem suggestiven Titel ‘Le Ventre de Paris’, eine Hommage an die französische Operette mit exquisiten Häppchen aus Werken von Offenbach, Hervé, Audran, Lecoq, Serpette und Thomas.

‘Le Ventre de Paris’, der ‘Bauch von Paris’, ist ein vielsagender Titel. Er bezieht sich auf einen 1873 erschienenen Roman von Émile Zola, dessen Handlung größtenteils auf dem zentralen Markt von Paris, den ‘Halles de Paris’, eben dem ‘Ventre de Paris’ spielt, der vor Jahren nach Rungis verlegt wurde.

Und ums Essen und Trinken ging es denn auch im dem Operetten-Digest in den ‘Bouffes du Nord’, wo eine richtige ‘Grande Bouffe’ gefeiert wurde, ein groteskes Gelage von vier Personen, das zur Völlerei inklusive philosophischer Abarbeitung ausartete, von der Vorspeise bis zum Dessert, mit diversen Zwischenstufen und emotionalen Ups and Downs, zubereitet von vier Sängern und drei Instrumentalisten.

Le Ventre de Paris: Camille Poul & Arnaud Marzorati (c) Palazzetto Bru Zane, Michele Crosera

Le Ventre de Paris: Camille Poul & Arnaud Marzorati
(c) Palazzetto Bru Zane, Michele Crosera

In einer Art ‘Café-Concert’ brillierten die Sopranistin Camille Poul, die Mezzosopranistin Caroline Meng, der Tenor David Ghilardi und Chefkoch Arnaud Marzorati, Bariton, mit zum Teil lustigen, zum Teil melancholischen Melodien, die ganz sicher etwas erreichten: Lust auf mehr zu machen. Immerhin wurde die Operette in Frankreich erfunden, wo Jacques Offenbach und Hervé Mitte des 19. Jahrhunderts viel explosiven Stoff für ihre Spottlust fanden, die nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Interpreten wie auch beim Publikum nicht mehr ankam. Die Operette wurde vom Musical überrannt. Zweifellos zeigten Arnaud Marzorati und seine talentierten Mitstreiter, dass geschmackvoller szenischer Ausdruck ohne Blödelei die Musik in den Mittelpunkt stellen und diese so vollauf zur Wirkung bringen kann. Diese Stilsicherheit ist das größte Lob, das man den Ausführenden dieses höchst angenehmen Konzertabends machen kann.

Nicht weniger bereichernd war der zweite Abend des Festivals, mit Étienne-Nicolas Méhuls einaktiger romantischer Oper ‘Uthal’, einer ‘Opéra-comique’ mit deutlich dramatisch-tragischem Charakter, die am 17. Mai 1806 in Paris uraufgeführt wurde und bald darauf in der Versenkung verschwand. Dafür mag das in einer etwas schwülstigen Sprache verfasste Libretto von Jacques Benjamin Maximilien Bins de Saint-Victor mitverantwortlich sein, das auf den damals sehr beliebten ‘Gesängen des Ossian’ des Schotten James Macpherson (1736–1796) fußt.

Mit ihrer düster-rauhen Natur- und Landschaftsschilderung fand diese ‘Ossianische Dichtung’ in Europa schnell Verbreitung. So verarbeitete Felix Mendelssohn Bartholdy in der Ouvertüre ‘Die Hebriden’ Eindrücke einer Reise nach Großbritannien, bei der er 1829 die Inselgruppe vor der Westküste Schottlands besuchte. Diese galt als Schauplatz der Ossian-Epen, in welchen der erblindete Barde Ossian die Kriege und Heldentaten des Königs Fingal und seiner Krieger sowie die wilde Landschaft besingt. Auch Mendelssohns ‘Schottische Symphonie’ hat diese ‘ossianische’ Atmosphäre. Der dänische Komponist und Dirigent Niels Wilhelm Gade schrieb eine Ouvertüre unter dem Titel ‘Nachklänge von Ossian’ und auch Johannes Brahms und Franz Schubert verfielen dem Ossian-Fieber.

Für die Aufführung von ‘Uthal’ in der Hofoper von Versailles hatte das ‘Palezzetto Bru Zane’ die ‘Talens Lyriques’ und den ‘Choeur de Chambre de Namur’ sowie exzellente Solisten engagiert, die unter der impetuosen Leitung von Christophe Rousset mit viel Überzeugungskraft Méthuls ‘Uthal’ eine Wiederbelebungsspritze gaben.

Das Orchester, für das Méhul keine Violinen vorgesehen hat, spielte mit 2×7 Bratschen, Celli und Bässen dunkel fundiert und begeisterte gleich in der Mendelssohn-würdigen Sturm-Ouvertüre. Méhul zeigt überhaupt in der mit ca. 75 Minuten recht kurzen Oper viel Sinn für Dramatik und aufgewühlte Klänge, wie sie sich logischerweise aus der Konfrontation zwischen Uthal und seinem Schwiegervater Larmor ergeben, dessen Land er besetzt hat und das Larmor mit der Hilfe von Fingal, dem Chef der Morven, wiedererobert. Malvina, Uthals Frau und Larmors Tochter, ist zwischen der Liebe zu ihrem Mann und ihrem Vater hin und hergerissen. Sie versucht vergeblich, den Krieg zu verzögern. Uthal wird in der Schlacht geschlagen und zur Verbannung verurteilt. Als Malvina erklärt, ihm ihn ins Exil zu folgen, gesteht Uthal, dass er falsch handelte, was wiederum Larmor zur Begnadigung des Schwiegersohns bringt.

Karin Deshayes & Yann Beuron (c) Palazzetto Bru Zane Gaelle Astier-Perret

Karine Deshayes & Yann Beuron
(c) Palazzetto Bru Zane Gaelle Astier-Perret

Die Mezzosopranistin Karine Deshayes sang die einzige Frauenrolle mit kraftvoller Stimme, sehr gefühlsintensiv und zeichnete so ein starkes Porträt der Malvina.

Jean-Sébastien Bous Stahlkraftstimme klang letztlich für die Rolle des alten Larmor etwas jung, und der Sänger verfehlte es, der Figur das ‘Weise’, das Philosophische zu geben, das sich, wenn auch spärlich, im Text findet. Zu jung wirkte der ‘vieillard’, der Greis, auch gegenüber Yann Beuron, der dem Uthal, obwohl im Kampf unterlegen, letztlich den vokalen Sieg bescherte. Beurons Interpretation war ein Musterbeispiel für fein differenzierenden Gesang, und er drückte der Rolle mit seiner warmen, baritonal gefärbten Tenorstimme sehr souverän seinen Stempel auf.

In den Nebenrollen fiel der Tenor Reinoud Van Mechelen (Erster Barde) auf, der mit seiner sensiblen und klar strahlenden Stimme die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die begeisterte Reaktion des Publikums zeigte, wie unmittelbar ansprechend diese Aufführung war, und wenn tags zuvor eine der philosophischen Betrachtungen im ‘Ventre de Paris’ besagte, ein ‘ventre creux’ sei nicht ‘charitable’ (‘Ein leerer Magen ist nicht barmherzig), so kann das Fazit nach zwei Tagen ‘Festival Palazzetto Bru Zane’ nur lauten: Hunger gestillt!

Ab morgen geht es dann mit Kammermusik im ‘Théâtre des Bouffes du Nord’ weiter (www.bru-zane.com).

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