Mit Beginn dieser Spielzeit ist die aus dem schweizerischen Bern stammende Nora Schmid neue Intendantin an der Semperoper Dresden. Sie war das bis dahin am Opernhaus Graz. Mit Arrigo Boitos großer Oper Mefistofele als Dresdner Erstaufführung setzte sie mit ihrer ersten Premiere ein deutliches Ausrufezeichen. Michael Oehme berichtet.
Die Faust-Thematik ist in Dresden natürlich immer schon präsent. Im Haus selber begrüßt Ernst Rietschels Goethe-Skulptur die Besucher am Hauptportal. Im Deckengemälde über dem Bühnenportal sind Faust, Gretchen und Mephistopheles sozusagen in jeder Aufführung allgegenwärtig. Ein Gemälde zum Thema Faust in einer Lünette im zwingerseitigen Vestibül sowie ein lesender Faust und ein grübelnder Mephisto auf den Brüstungen des seitlichen Treppenhauses tun ihr Übriges. Charles Gounods Faust oder Margarethe erlebte 1861 in Dresden seine bzw. ihre deutsche Erstaufführung und 1925 wurde hier Ferruccio Busonis Doktor Faustus uraufgeführt. Die musikalische Leitung hatte Fritz Busch.
Nun also das Werk des Verdi-Librettisten (Falstaff und Otello) Arrigo Boito. Den komplexen Faust-Stoff in eine fünfstündige Oper zu pressen, scheiterte zunächst 1868 an der Mailänder Scala. Gebräuchlich ist heute die etwa zweieinhalbstündige Fassung aus dem Jahr 1875. Es sind Szenen aus Goethes Faust, die einem von der Bühne entgegen und bekannt vorkommen: u. a. der Prolog im Himmel, Osterspaziergang, Fausts Pakt mit dem Teufel, Faust Begegnung mit Margarete in Martas Garten, die Walpurgisnacht, die Kerkerszene und schließlich die Erlösung Fausts im Zusammentreffen mit der schönen (H)elena, die zum berühmten Augenblick “Verweile doch, du bist so schön“ führen. Ergänzt wird die Dresdner Aufführung durch eingefügte, meist berühmte Textausschnitte aus Goethes Opus magnum, die eine Frau – hier Martina Gedeck – spricht, welche eigentlich nicht notwendig, aber wenn von einer wunderbaren Schauspielerin wie ihr vorgetragen, ein Genuss sind.
Vom Bühnenbild Momme Hinrichs bleiben eine Scheibe (Weltkugel?), in der Videoprojektionen die Erschaffung des Universums widerspiegeln, in Erinnerung. Auf einem ebenerdigen Pendant spielen sich die irdischen Szenen ab. Hier leistet die Regie Eva-Maria Höckmayrs Beeindruckendes. Das Volksgetümmel, auch die Walpurgisnacht werden nicht folkloristisch abgebildet, sondern in ästhetische Choreografien und Bilder überhöht, zum Beispiel wenn in der Walpurgisnacht die Masse der menschlichen Körper in leuchtendem Rot erglüht. Ganz abgesehen von der darstellerischen Leistung erbringen Kinderchor und Chor der Sächsischen Staatsoper (Einstudierung: Jan Hoffmann) dabei Herausragendes. Boitos Mefistofele ist eine Choroper! Und inmitten all dessen nun Mephisto, im Trenchcoat mit Schlips und Kragen, ein ganz gewöhnlicher Geschäftsmann wie von nebenan und doch so gefährlich (welcher Bezug zur heutigen Zeit!). Krzysztof Baczyk singt diese Titelrolle, klingt zunächst etwas unbedarft, gewinnt im Laufe des Abends aber enorm an Stimm- und Ausdruckskraft. Ähnliches trifft auf die Partie des Faust zu. Hier war mit Spannung der usbekische Tenor Bekhzod Davronov, der unlängst in Puccinis La Rondine sein sensationelles Debüt an der MET in New York feierte, erwartet worden. Davronov musste leider absagen. Für ihn eingesprungen ist der ebenfalls hochgeschätzte Pavol Breslik. Seine Stimme schien für die Rolle zunächst etwas zu klein. Aber auch er fand noch zu großer Form. Beeindruckend auch von der Bühnenpräsenz her, wie er am Schluss zum Glück findet und Mephisto an der Seite hinter sich lässt. Bleibt die eindrucksvolle Verkörperung der Margherita durch Marjukka Tepponen. Neu im Ensemble der Semperoper lässt sie mit ihrer wunderbar wohlklingenden lyrischen Stimme Schönstes erwarten. Gleiches gilt für Clara Nadeshin, die im vierten Akt als Elena ihren kurzen, aber klanglich berührenden Auftritt hat.
Bleibt die Staatskapelle, für die die Partitur Boitos wie geschaffen ist. Gewaltige Klangmassen und instrumentale Schönheiten sind gefordert. Wagner lässt grüßen. Seinen Leitmotiven ähnlich graben sich wiederholende Melodien ins Ohr ein. Gleichwohl geriet mir das Dirigat von Andrea Battistoni etwas zu grobschlächtig. Hier liegen noch Reserven brach, die die Dresdner an Raffinesse aufbringen können. Als großer Opernabend ist dieses Stück und seine Umsetzung in Dresden auf jeden Fall zu empfehlen.
Tagsdrauf noch Benvenuto Cellini von Hector Berlioz, ebenfalls eine Choroper mit höchsten Ansprüchen (die Premiere hatte kurz vor der Spielzeitpause stattgefunden). Was der Sächsische Staatsopernchor (Einstudierung: Jonathan Becker) schon einen Tag später wieder zu leisten hatte, verdient größtes Lob. Höchste Töne waren da zum Beispiel ausdauernd von den Tenören gefordert und glanzvoll in den Saal geschmettert worden. Für die Staatskapelle war es natürlich ein gefundenes Fressen, den Glanz und die Virtuosität dieser Partitur voll zur Geltung zu bringen. Der erst 28jährige Oscar Jockel am Dirigentenpult wusste mit seinem Können diese Potenzen wirkungsvoll auszuspielen. Riesenapplaus für ihn und die Kapelle. Dass es nach der Flucht Richard Wagners aus Dresden Überlegungen gab, Hector Berlioz nach Dresden zu holen, sei nur am Rande vermerkt.
Die Geschichte um den Bildhauer Benvenuto Cellini ist dem faustischen Streben nicht unähnlich, wenngleich sie hier mit Mord und Intrigen verbunden und mitten im römischen Karneval angesiedelt ist. Das hat in dieser Produktion die Regie Barbora Horákovás zu grotesken Überzeichnungen animiert. Auch der Auftritt des Papstes Clemens VII. in einer Mischung aus Karikatur und Kitsch stößt nah an die Grenzen des guten Geschmacks. Bemerkenswert ist die manieristische Bilderfolge á la Michael Triegel im Bühnenbild von Arne Walther, welche die Renaissance als zeitgeschichtlichen und künstlerischen Hintergrund der Berlioz-Oper in den Mittelpunkt rückt.
Gesungen wird durchweg auf höchstem Niveau, wobei Benvenutos Geliebte Teresa von Tuuli Takala wegen Indisposition nur gespielt und von Emily Hindrichs aus Köln als kurzfristig eingesprungener Ersatz vom Bühnenrand aus gesungen wurde. Äußerste tenorale Strahlkraft bot Anton Rositskij als Benvenuto Cellini auf, sein Gegenspieler Fieramosca einen wohltönenden Bariton. In der Hosenrolle des Ascanio glänzte der Mezzo von Stepánka Pucálkova, die mittlerweile zu einem Star im Dresdner Hausensemble aufgerückt ist. Nach diesem bühnenwirksamen und vor allem musikalisch hochkarätigen Abend stellt sich die Frage, warum diese Oper von Hector Berlioz so selten auf den Spielplänen der leistungsfähigsten Opernhäuser der Welt zu finden ist.