Lieber Sào Soulez Larivière – Sie hier in Berlin? Ich dachte, Sie wären längst in Kronberg.
Im Moment bin ich an beiden Orten! Im vergangenen Jahr habe ich meinen Bachelor-Abschluss in Berlin an der HfM Hanns Eisler bei Tabea Zimmermann gemacht, und jetzt pendele ich sozusagen zwischen Berlin und der Kronberg Academy, wo ich gerade meinen Master mache. Auch dort setze ich meinen Unterricht bei Tabea Zimmermann fort.
Ist sie Ihr Vorbild – vielleicht sogar in dem Sinne, dass Sie eines Tages wie sie unterrichten möchten?
Oh ja! Es ist ein ganz großes Privileg, bei Tabea Zimmermann zu studieren. Ich bin immer wieder fasziniert und begeistert davon, wie treu sie der Musik bleibt und wie gut sie dies an ihre Studenten vermitteln kann.
Von meiner Seite aus konnte ich schon einigen Studenten im Unterricht helfen und habe gemerkt, wie viel man dabei über den anderen lernt – und sogar über sich selbst! Dafür bin ich sehr dankbar und möchte weitermachen.
Sie sind Mitte zwanzig, aber Ihre Bratsche ist sogar noch jünger als Sie: Sie spielen auf einem Instrument, das Frédéric Chaudière 2013 gebaut hat. Ist so eine „frische“ Viola die richtige für Sie und für das in der Regel ja schon gut hundertjährige Repertoire, das Sie vorrangig spielen?
Ganz bestimmt. Meine Bratsche ist genau richtig für mich: von der Größe her, aber auch klanglich. Wir haben einander sozusagen gesucht und gefunden! Ein Musiker merkt sehr bald, ob er das richtige Instrument hat, schließlich verbringt er seine gesamte Lebenszeit damit. Ich würde nicht sagen, dass ein älteres Instrument unbedingt besser ist als ein modernes, sie haben einfach andere Qualitäten. Letztendlich hängt es wirklich davon ab, nach welchen einzigartigen Klängen der Spieler sucht.
« Zu frisch“ ist meine Bratsche jedenfalls ganz sicher nicht! Das Spannende daran ist, dass wir gemeinsam etwas Neues aufbauen.
Wie sind Sie überhaupt zur Bratsche gekommen?
Tatsächlich habe ich mit der Violine angefangen, als ich klein war. Wie meine ältere Schwester, die Geigerin ist, habe ich bei Natasha Boyarsky an der Yehudi Menuhin School in England intensiv Geige gelernt, aber nebenbei später in Kammerensembles und im Orchester die Bratsche ausprobiert. Und da habe ich mich verliebt. Das war das Instrument für mich! Das Timbre, der Tonumfang der Viola: All das war meinem Herzen viel näher als bei der Violine. Natürlich bringt dieser Instrumentenwechsel auch Mühe mit sich, man muss zum Beispiel mit einem neuen Schlüssel zurechtkommen, aber das lernt man dann schon. Ich mochte besonders das Gefühl, innerhalb eines Streicherensembles in der Mitte zu sein. Als Bratscher gebraucht man sozusagen mehr seine Ohren als seine Stimme!
Aber als Solist auf der Bratsche haben Sie doch längst nicht so viel Repertoire zur Verfügung wie ein Geigensolist…
Na klar, aber das ist ja nicht unbedingt nachteilig – eher im Gegenteil! Als Bratscher ist man permanent gefordert, die Möglichkeiten seines Instruments zu erkunden und sich neues Repertoire zu erschließen. Wir leihen uns viel von der Geige, vom Cello, sogar auch von der Klarinette. Ich arrangiere sehr gern für die Bratsche und probiere Zeitgenössisches aus, und wenn ich Konzerte programmiere, genieße ich das Gefühl, die Grenzen des Repertoires zu erweitern. Die Vorstellung, dass wir heutigen Musiker echte Pioniere sind und dabei mithelfen, das Spielbare für künftige Musikergenerationen mitzugestalten, finde ich fantastisch.
Sie machen Kammermusik – auch gemeinsam mit Ihrer Schwester Cosima –, Sie haben mit dem Frielinghaus Ensemble eine Tchaikovsky- und Dvorak-CD aufgenommen, aber hervorragende Kritiken haben Sie vor allem für Ihr Debüt-Album mit Werken unter anderen von Hindemith, Debussy und Rebecca Clarke bekommen, das Sie mit der Pianistin Annika Treutler eingespielt haben. Liegt ein Fokus Ihrer Arbeit auf der Musik des Fin de siècle?
Ja, ich finde diese Musik unglaublich reizvoll. In dieser Zeit wurde sicherlich eine Menge unglaublicher Bratschenmusik geschrieben. Es war ein Aha-Erlebnis, als ich entdeckt habe, dass Hindemiths Sonate Opus 11 Nr. 4 und Clarkes Sonate für Bratsche und Klavier beide 1919 entstanden sind. Da klingt ein später Impressionismus an – unsere CD heißt ja nicht zufällig ‘Impression’. Diese Musik konnte wohl nur in dieser Zeit so geschrieben werden. Das macht sie so ergreifend und verleiht ihr ihre Modernität bis heute.
Ich würde jedoch nicht sagen, dass mein Fokus auf einer bestimmten Epoche liegt. Ich bin ständig auf der Suche nach neuem und spannendem Repertoire, das ich in mein Programm aufnehmen kann.
Nun sind CDs ja eigentlich ein Medium von gestern. Ist es für Sie und die Musiker und Musik-Konsumenten Ihrer Generation überhaupt noch erstrebenswert, sich mit diesen altmodischen Scheiben abzugeben, wo man doch heute fast alles streamen kann?
Es stimmt, eine CD bedeutet heute sicherlich nicht mehr dasselbe wie früher. Trotzdem versuchen die meisten Musiker immer noch, CDs einzuspielen. Ich denke, das Konzept einer CD besteht heutzutage eher in der Möglichkeit, seine künstlerische Vorstellungskraft und seine Ideen zu sammeln und allen zu zeigen, wie weit man auf seiner persönlichen Reise gekommen ist.
Richtig, heute streamen alle oder doch fast alle, vor allem die jungen Leute sind mit Plattformen wie Apple Music oder Idagio sehr vertraut. Aber das Medium ändert nichts daran, dass die klassische Musik in der jungen Generation wenig Publikum hat. Jugendliche und junge Erwachsene sind nach wie vor nicht gerade offen der Klassik gegenüber, sie kommen viel zu selten in die Konzertsäle. Da muss sich etwas ändern!
Was denn? Und wie kann man das erreichen?
Wir müssen den Leuten nahebringen, was das Besondere an unseren Live-Konzerten ist. Dass es ein Erlebnis äußerster Konzentration und Intimität ist, bei dem man sich vollkommen ins Hören versenkt. Das hat schon etwas Spirituelles! Die Sozialen Medien führen nach meiner Erfahrung zwar dazu, dass alle dauernd virtuell präsent sind, dass aber kaum noch konzentriertes Zuhören und echte Kommunikation stattfinden. Ich habe schon oft gedacht: Vielleicht sollten wir Musiker mit unseren Instrumenten viel öfter rausgehen, zu den Leuten hin, und ihnen Gratis-Tickets für unsere Konzerte geben. Wenn wir damit nur eine Person zusätzlich dazu bringen, ins Konzert zu kommen, haben wir doch schon was gewonnen! Überhaupt sollten wir viel mehr über den Tellerrand gucken. Ich mache hier in Berlin zum Beispiel unheimlich gern Musik in Cafés – einfach so aus Spaß. Kammermusik muss nicht unbedingt in einem richtigen Konzertsaal stattfinden!
Finden Sie, das wäre möglicherweise generell ein Ansatz, um neues Publikum zu gewinnen: raus aus den Konzertsälen, rein ins Leben?
In gewisser Weise ja. Das Tourneegeschäft, wie es heute ist, finde ich viel zu hektisch: Meist haben wir nur einen Tag an einem Konzertort, wir kommen an, machen die Generalprobe, geben das Konzert, und schon sind wir wieder weg. Musiker sollten in der Lage sein, mehr Zeit an einem Ort zu verbringen, und mehr Gelegenheit haben, Outreach-Konzerte zu geben, um mit der lokalen Gemeinschaft in Kontakt zu treten. Wie sonst sollen wir denn neues Interesse an uns und unserer Musik wecken?
Fast drei Jahre lang konnten die meisten Musiker weder in Konzerthallen noch anderswo auftreten: Die Corona-Pandemie hat das Konzertleben lahmgelegt. Wie sind Sie durch diese Zeit gekommen?
Persönlich war es eine sehr wichtige Zeit für mich. Zum einen habe ich eine intensivere, tiefergehende Art des Übens gefunden. Zum anderen war die Corona-Zwangspause auch seelisch eine Wohltat für mich. Plötzlich hatte ich Zeit zum Durchatmen – und um intensiv und selbstkritisch darüber nachzudenken, warum ich Musik mache und ob ich wirklich das gefunden habe, was ich im Leben machen will.
Für mich selbst kann ich sagen, dass ich mir jetzt sicherer bin als zuvor: Ja, ich bin auf dem richtigen Weg, ja, ich will Musik machen. Ich habe eine bessere Balance zwischen Arbeit und Lebensfreude gefunden und weiß, dass ich mich auf das Richtige konzentriere. Ich weiß aber auch, dass es anderen Musikern da ganz anders ergangen ist: Viele – darunter auch einige meiner Bekannten – haben in der Corona-Zeit beschlossen, die Musik als Beruf an den Nagel zu hängen, nicht so sehr aus finanziellen Gründen, sondern weil sie realisiert haben, dass Musik nicht mehr ihr Lebensmittelpunkt sein kann. So oder so hat diese Phase eine Art Realitäts-Check erzwungen. Sie war für mich von unschätzbarem Wert.
Sie sind in Paris geboren, Ihre Muttersprache ist Niederländisch, sie fühlen sich in Frankreich und Großbritannien zu Hause. Wie kommt es, dass Sie nun in Deutschland leben und arbeiten?
Es hat sich so ergeben! Ich habe eine Zeitlang den passenden Bratschen-Lehrer gesucht. Letztlich habe ich mich für Tabea Zimmermann und Berlin entschieden. Passenderweise lebt auch meine Schwester in Deutschland, in Hannover. Das Musikerleben kann ganz schön hart sein, da ist es von Vorteil, Verwandte und Freunde in der Nähe zu haben, damit man sich gegenseitig unterstützen kann. Aber auch sonst ist es ein Genuss, in Deutschland zu arbeiten. Dort findet man unglaubliche Unterstützung und Initiativen für klassische Musik und für Kultur. Während noch vor ein paar Jahren praktisch keiner an der Menuhin School gesagt hat, dass er zum Studieren gern nach Deutschland gehen möchte, kommen jetzt immer mehr von dort hierher. Das hat gute Gründe!
Sie sind weithin als Solist unterwegs, erst am 18. Februar haben Sie in der Hamburger Laeiszhalle konzertiert und unter anderem Werke von Britten und Shostakovich gespielt. Ist die Solistenkarriere die richtige für Sie? Haben Sie auch schon mal eine Orchesterstelle ausprobiert?
Ich möchte mich nicht in eine bestimmte Kategorie einordnen. Für mich besteht das Wunder, die Magie des Musikerdaseins darin, in die Welt hinauszugehen und die Schönheit der Musik zu teilen. In diesem Sinne: Wo immer mich meine Bratsche hinführt, werde ich gerne an ihrer Seite sein.