Bereichert die Neueinspielung einer Bachpassion den diesbezüglich ohnehin bereits gesättigten Markt, beschäftigen einen in der Regel zwei Fragen. Die eine ist praktischer Natur: Welche neuen Ideen rechtfertigen den Aufwand? Die andere ist eher philosophisch: Bekäme man nun tatsächlich eine, die wirklich sämtliche Wünsche erfüllte, wäre es doch eigentlich auch unglaublich schade – hieße das doch, das man hier gewissermaßen ein Ende erreicht hätte.
Also hört man neugierig zu – auch beim 2018 entstandenen und von Rondeau produzierten Livemitschnitt der Johannespassion aus der Leipziger Thomaskirche in der gängigen Fassung von 1724. Die Besonderheit: Hier sind mit Peter Schreier (Dirigent), Martin Petzold (Evangelist) und Patrick Grahl gleich drei Tenor-Generationen am Werk; der Arien-Tenor war 2016 Preisträger des Internationalen Bach-Wettbewerbs Leipzig. Es singt der Sächsische Kammerchor, es spielen die Mitteldeutschen Virtuosen.
Die Interpretation ist schlüssig, die Aufnahme technisch makellos. Dass nicht auf historischen Instrumenten musiziert wird, kann man verschmerzen, denn das Orchester macht seinem Namen alle Ehre. Der Chor agiert ebenfalls wendig und transparent; er stellt auch die Soliloquenten. Peter Schreier nimmt das Werk in elegantem Tempo und setzt einige spannende Akzente – beispielsweise, als er in der ‘Erwäge’-Arie des Tenors (Nr. 20) den Schlussakkord besonders lange aushält oder den Chor in Nr. 32 (Jesu, der Du warest tot) als Begleitung der Bass-Arie ‘Mein teurer Heiland’ atemberaubend sphärisch wie aus einer anderen Welt hinüberwehen lässt.
Leider ist die Interpretation in den anderen Chorälen weit weniger einfallsreich: sauber gesungen ja, aber recht eindimensional, denn Schreier verzichtet größtenteils darauf, auch und gerade an diesen Stellen durch die Musik zu sprechen und das Passionsgeschehen auszulegen. Was hingegen dem grandiosen Martin Petzold gelingt, der agogisch abwechslungsreich seinen Bericht kundig, klug und klangschön zur fesselnden Geschichte ausbaut: Wenn er in Nr. 21 von den Backenstreichen singt, mit denen die Kriegsknechte den verurteilten Jesus traktieren, möchte man sich fast wegducken, so plastisch gerät ihm das – und dass Barrabas ein Mörder ist, vergisst man auch nicht so bald.
Was man hingegen schnell wieder aus dem Kopf bekommen möchte, ist die Gestaltung des Christus durch Egbert Junghanns, der so gut wie jede Schlussnote mit einem Tremolo-Akzent versieht; das hielt man eigentlich für überwunden. Auch die anderen Solisten schätzen dieses Stilmittel, verstehen aber in der Regel, es auf ein erträgliches Vibrato zu reduzieren. Insofern gefällt Marie Henriette Reinhold (Alt), viel mehr aber noch überzeugen der federnde Sopran von Viktoria Wilson, Grahls Tenor und Lars Conrad als Pilatus und Arienbass. Für diese Partien hat Peter Schreier junge Talente verpflichtet und damit eine gute Wahl getroffen. Insgesamt also eine weitere Variante im Reigen der Passionseinspielung: mit weit mehr Stärken als Schwachstellen.