Auch 2024 lädt die Schubertiade im österreichischen Vorarlberg zu zahlreichen Konzerten ein. 60 sind es in diesem Jahr, verteilt auf fünf Perioden, drei davon im stimmungsvollen Markus-Sittikus-Saal in Hohenems am Fuß des Bregenzerwaldes und zwei mitten in den Bergen im Angelika-Kauffmann-Saal in Schwarzenberg. Michael Oehme hat sich für Pizzicato einige Konzerte angehört.
Die Schubertiade ist nicht nur das weltweit einzige, sondern auch das umfangreichste Festival, das sich ausschließlich dem Lied- und Kammermusikschaffen Franz Schuberts und seines Umfelds widmet. Während dieser Festivalwochen wird die Schubertiade zum Mekka des Liedgesang sowie der Klavier- und Kammermusik. Alljährlich zieht sie Künstler und Besucher aller Welt in den Bann. Die größten und auch immer wieder neue Namen tauchen hier auf und lesen sich wie ein Who´s who des internationalen Musikgeschehens. Soeben sind zwei Festivalwochen in Schwarzenberg zu Ende gegangen. Der Angelika-Kauffmann-Saal – er zählt zu den 20 besten Konzertsälen der Welt – bot dafür wieder einen idealen Rahmen. Das Zusammenspiel von Mensch, Natur und Kunst hier mitten in den Bergen hat etwas Einmaliges. Was war bei einem dreitägigen Besuch zu erleben?
Ein Duo-Abend mit Leif Ove Andsnes und Bertrand Chamayou und Schuberts Musik für Klavier zu vier Händen. Die beiden sympathischen, wesensverwandten Pianisten boten kein mechanisches Duo-Spiel, sondern brachten deutlich ihre Individualität ein – Andsnes mit seinem wundervoll runden Klavierklang, Chamayou mit einer eher feinnervigen Tongebung. Interessant zu beobachten war das immer, wenn sie am Flügel die Seiten tauschten. Bei der Werkauswahl kam ein selten beleuchteter Aspekt in Schuberts Schaffen zutage, seine Beschäftigung mit der Fugentechnik, hier in der Fuge e-Moll, D 952 und auch in der großartigen f-Moll-Fantasie, D 940, die in einer solchen gipfelt. Unterbrochen wurde das Schubert-Programm von Leif Ove Andsnes und Bertrand Chamayou durch Klavierminiaturen aus den musikalischen Tagebüchern von György Kurtág, vom eher konservativ geltenden Schubertiade-Publikum mit erstaunlich freundlichem Beifall bedacht.
Im tags drauf folgenden Lied-Recital war Erika Baikoff mit Joseph Middleton am Klavier zu erleben. Sie war in buchstäblich letzter Minute eingesprungen. Sowohl Katharina Konradi als auch Sophie Rennert hatten krankheitsbedingt absagen müssen. Mir ihrer natürlichen Ausstrahlung hatte die junge Sängerin das Publikum sofort auf ihrer Seite. Mit jeweils ganz unterschiedlichen Liedern von Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy, Hugo Wolf und Franz Schubert zeigte sie eine erstaunliche sängerische Wandelbarkeit, ihre Stimme in allen Lagen wohlklingend und nie forciert, besonders schön die Mitte. Bei Schumann zum Beispiel sorgte sie mit dem aufgeregten Ständchen und dem schmerzensreichen Requiem für Gegensätze, die unter die Haut gingen. In Hugo Wolfs Mignon-Liedern baute sie eine Spannung auf, die im Forte der letzten Strophe von ‘Kennst Du das Land’ ihren großartigen Abschluss fand. Ja, die Fähigkeit zum Halten der Spannung ist es, die die Gesangskunst von Erika Baikoff besonders auszeichnet. So wurde Schuberts ‘Des Fischers Liebesglück’ mit seinen elf(!) fast gleichförmigen, nach innen gerichteten Strophen zum Höhepunkt dieses bejubelten Liederabends, an dessen Erfolg die Begleitung durch Joseph nicht unbeträchtlich war.
Dann ein Klavierabend mit dem britischen Pianisten Paul Lewis. Sein Debüt bei der Schubertiade reicht in das Jahr 2000 zurück. Diesmal spielte er alle drei großen späten Klaviersonaten Schuberts (c-Moll, D 958, A-Dur, 959 und B-Dur , D 960) – über zwei Stunden reine Musik, ein eigentlich undenkbares Unterfangen, was die technischen und kognitiven Anforderungen angeht. Wie souverän Paul Lewis dies bewältigt, ringt einem nur höchste Bewunderung ab. Wie er mit seinem vollgriffigen, diesseitigen Ton die Musik in jedem Moment erstehen lässt, bestärkt den Eindruck, nur so kann es sein! Interessant auch, dass bei Paul Lewis Ausführung die drei Sonaten zu einem zyklischen Ganzen werden, die erste in c-Moll als grüblerisch fragender Ausgangspunkt, die zweite in A-Dur als dramatisch bekräfigte Mitte und die dritte in B-Dur in dieser Konstellation als beinahe lyrischer Ausklang. Die stehenden Ovationen und Bravorufe für Paul Lewis waren mehr als gerechtfertigt.
Dann noch einmal ein reiner Klavierabend. Marc-André Hamelin, der gebürtige Kanadier, seit 2014 ist er regelmäßiger Gast bei der Schubertiade und erklärter Publikumsliebling. Aber welcher Kontrast zu Paul Lewis am Vorabend. Hamelin ist ein Meister der Gegensätze und Extreme. Schuberts vier Impromptus, D 899 deutet er fast tiefenpsychologisch aus, stellt seine unglaubliche Spielfertigkeit in den Dienst von fast unerhörter Zartheit. Schubert aus einer anderen, fernen Welt, die beim Zuhören eine geradezu körperliche Spannung erzeugt. Der ganze Hamelin war dann bei Robert Schumanns Waldszenen mit ihren neun ganz unterschiedlichen Charakterstücken zu hören. Schliesslich steuert Hamelin eine eigene Komposition bei, eine Suite à la ancienne, im alten an das Barock angelehnten Stil, natürlich modern verfremdet, leicht jazzig angehaucht und so virtuos, dass sie nur für ihn nicht unspielbar ist. Das Publikum im Angelika-Kauffmann-Saal ist danach aus dem Häuschen.
Mein letztes Konzert bei diesem kurzen Aufenthalt bei der Schubertiade 2024 war der Liederabend von Matthias Goerne. Leif Ove Andsnes hatte sich Goerne als Begleiter gewünscht – zwei starke Künstlerpersönlichkeiten also, die diesen Abend eindrücklich prägten. Bekannt für seine tieftraurigen, ja oft todernsten Programme bot Goerne auch in Schwarzenberg ein solches reines Schubert-Programm. Der Wanderer, Wehmut, ‘Der Jüngling und der Tod’ sowie ‘Fahrt zum Hades’ standen am Beginn. Wenn Goerne in den ersten Liedern seine stimmlichen Potenzen fast überdeutlich herausstellte – seine profunde grollende Tiefe und im Gegensatz dazu tenorale Höhe – verstörte das zunächst ein wenig. Im Laufe des Abends wurde der Sänger aber immer ausgeglichener und lyrischer. Bei existentiellen Liedern wie ‘Grenzen der Menschheit’ (Goethe) lief Goerne zu Hochform auf und zeigte sich solchen schwierigen Texten wie kein anderer gewachsen. Dies betraf natürlich auch die anspruchsvollen ‘Gesänge des Harfners’ in Schuberts Vertonung. Versöhnlicher wurde es dann am Schluss mit Abendstern, Die Sommernacht und Der liebliche Stern. Fasziniert blieb man am Ende dieser ohne Pause (auch das ein Markenzeichen Goernes) vorgetragenen musikalisch-thematischen Reise zurück. Leif Ove Andsnes hatte dazu mit seinem einfühlsamen, unglaublich klangschönen Klavierspiel und den immer im richtigen Moment dramaturgischen Eingriffen enorm viel beigetragen. Sinnfälligerweise gab es nach diesem Programm keine Zugabe.
Die Schubertiade findet in diesem Jahr noch Mitte Juli in Hohenems, Ende August wieder in Schwarzenberg und Anfang Oktober noch einmal in Hohenems statt.