Gustav Mahler: Symphonie Nr. 4; Essi Luttinen, Mezzosopran, Turku Philharmonic Orchestra, Leif Segerstam; 1 CD Alba ABCD454; Aufnahme 05/2019, Veröffentlichung 14/08/2020 (61'40) - Rezension von Remy Franck
Leif Segerstam nimmt sich Zeit für Mahlers Vierte. Mit fast 62 Minuten ist seine Aufnahme eine der längsten im Katalog, und dennoch hat man nie den Eindruck, die Musik sei zu lang, ganz im Gegenteil. Der Dirigent widmet sich mit so viel Liebe den Details, dass man begierig diesen reichen Mahler-Sound aufsaugt. Kräftige Akzente im Blech, starke Kontrabässe, betörende Streicherkantilenen, kecke Holzbläser-Kommentare: Gleich der erste Satz wird unter Segerstams inspirierender Leitung zu einem maximal optimierten Klangerlebnis selbst für den, der die Symphonie in unzähligen anderen Aufführungen gehört hat.
Auch den zweiten Satz dirigiert Segerstam mit phänomenaler Transparenz. Jede noch so kleine Phrase wird prägnant gestaltet, jede Passage mit ungemein viel Relief modelliert.
Im Adagio fasziniert der ungemein schöne, transparente und bewegend lyrische Klang des Orchesters aus Turku, den Segerstam mit der magischen Hand eines wirklich begnadeten Tonkünstlers formt, wobei der Dirigent Sorge trägt, die Atmosphäre nie zu negativ werden zu lassen. Die düsteren Passagen in diesem Adagio sind eher laute, vielleicht sogar etwas theatralische Seufzer als abgrundtiefe Einschnitte. Aber die Art, wie Segerstam diese Seufzer hinterfragen lässt und sie dann erneut ins Liebliche wendet, ist genial. Die Transparenz bewirkt, dass selbst dort wo Teile des Orchesters Schwermut laut werden lassen, andere Instrumente Trost spenden.
Für mich ist dieses Segerstam-Adagio eines der schönsten und erfülltesten, die ich je gehört habe.
Im Finale legt Segerstam weniger Wert auf rührende Kindlichkeit, wie sie Haitink mit dem ‘Concertgebouw Orkest’ so herrlich dargestellt hat (RCO 7003), aber Segerstam schärft die Kontraste und setzt Akzente. Die Stimme der deutlich vors Orchester gesetzten Essi Luttinen leuchtet weithin, wenn auch nicht mit kindlich heiterem Ausdruck, so doch, nach Mahlers Wunsch, ‘ohne Parodie’. Es ist nicht zum ersten Mal, dass ein Dirigent eine Mezzosopranistin in der Vierten einsetzt. Das gibt der Stimme natürlich ein anderes Profil und vor allem mehr Maturität als einige Sopranistinnen, etwa Barbara Bonney, in dieser Musik gezeigt haben. Es hat zweifellos bessere Sängersoli in dieser Symphonie gegeben, aber Luttinen ist sicherlich keine Enttäuschung. Segerstam leistet auch hier feinste Detailarbeit, so dass man auch diesen Satz als gelungen ansehen kann.
Gewiss, andere Dirigenten haben diese Symphonie kecker, verspielter oder auch leidenschaftlich-dramatischer gestaltet, aber das Schöne an den Mahler-Symphonien ist ja, dass sie unterschiedliche Interpretationen vertragen. Diese hier ist durchgehend schlüssig und vor allem so klangreich, dass ich sie neben vielen anderen gleichwertigen zu einer der wirklich interessanten Deutungen des Werks zähle, sicherlich auch eine sehr gefühlvolle. Und da Gefühle etwas sehr Persönliches sind, wird nicht jeder seine eigene Gefühlswelt mit jener dieser Interpretation synchronisieren können. Wem es aber gelingt, der wird sich der starken Wirkung von Segerstams suggestivem Dirigieren nicht entziehen können.
Leif Segerstam takes his time for Mahler’s Fourth. At almost 62 minutes, his recording is one of the longest in the catalogue, and yet one never has the impression that the music is too long, quite the contrary. The conductor devotes so much attention to details that one eagerly soaks up this rich Mahler sound. With strong brass accents, strong double basses, beguiling string cantilenas and pert woodwind comments the first movement becomes a maximally optimized sound experience even for those who have heard the symphony in countless other performances.
Segerstam also conducts the second movement with phenomenal transparency. Every phrase, no matter how small, is succinctly shaped, every passage modelled with immense relief.
In the Adagio, the incredibly beautiful, transparent and movingly lyrical sound of the Turku Philharmonic is fascinating. Segerstam shapes it with the magical hand of a truly gifted musician, whereby he takes care never to let the atmosphere become too negative. The dark passages in this Adagio are loud, perhaps even somewhat theatrical sighs rather than abysmal commentaries. The way Segerstam lets these sighs be questioned and then turns them back to the sweet is ingenious. The transparency has the effect that even where parts of the orchestra underline the melancholy, other instruments give comfort.
For me, this Segerstam Adagio is one of the most beautiful and fulfilling I have ever heard.
In the finale, Segerstam places less emphasis on touching childishness, as Haitink so wonderfully did it with the Concertgebouw Orkest (RCO 7003). Segerstam sharpens the contrasts and sets accents. The voice of the Essi Luttinen, clearly placed before the orchestra, shines far and wide, if not with childlike cheerful expression, then at least, according to Mahler’s wish, ‘without parody’. It is not the first time that a conductor has employed a mezzo-soprano in the fourth. This of course gives the voice a different profile and above all more maturity than some sopranos, some Barbara Bonney, have shown in this music. We have undoubtedly heard better solos in this symphony, but Luttinen is certainly not a disappointment. Segerstam does the finest detail work here as well, so that this movement can also be considered a success.
Other conductors have made this symphony bolder, more playful or even passionately dramatic, but Mahler’s symphonies fortunately tolerate different interpretations. This one is consistently coherent and, above all, so rich in sound that I consider it, along with many others of equal value, to be one of the really interesting interpretations of the work, one that is certainly very emotional. And since feelings are something very personal, not everyone will be able to synchronize their own emotional world with that of this interpretation. But those who succeed will not be able to escape the strong impact of Segerstam’s suggestive conducting.