Sir Neville Marriner
(c) Richard Holt

Mit Alain Steffen spricht Sir Neville Marriner über das ‘I,Culture-Projekt’, aber auch über die ‘Academy of St. Martin in the Fields’, seine Karruiere und seine Interpretationsideen.

Über 50 Jahre nach der Gründung der ‘Academy of St. Martin in the Fields’ waren Sie 2011 auch an der Gründung des ‘I, CULTURE Orchestra’, eines internationalen Jugendorchesters beteiligt.
Die Organisatoren des polnischen Adam Mickiewicz-Instituts und insbesondere der Dirigent Kirill Karabits sind eigentlich auf mich zugekommen. Das Projekt bestand darin, junge Musiker aus einst verfeindeten europäischen Ländern wie Armenien, Aserbaidchan, Ukraine, Polen und noch anderen zusammenzubringen und im Sinne des ‘West Eastern Divan Orchestra’ von Daniel Barenboim zusammen musizieren zu lassen. Und für dieses Projekt sollte ich das Gesicht sein. Darüber hinaus liebe ich es, mit talentierten jungen Musikern zusammenzuarbeiten. Man spürt da regelrecht die Spannung und die Erregung, diesen absoluten Willen, Musik zu machen, und das auf allerhöchstem Niveau. Bei diesen jungen Musikern gibt es keine Routine, die spielen hundertprozentig. Routinierte Musiker erkennt man immer daran, dass sie sich entspannt zurücklehnen und die Musik sehr gemächlich angehen (lacht). Bei den jungen Musikern ist das nicht der Fall, die sitzen erwartungsvoll auf der Kante des Stuhls. Nun, das ‘I, CULTURE-Projekt’ sollte ein einmaliges Projekt sein, nun geht es aber schon in seine 4. Spielzeit. Und da es anfangs ein sehr kostspieliges Unternehmen mit einem großen finanziellen Risiko war, engagierte man einen alten Haudegen wie mich für die erste Tournee (lacht).

Gehen wir zurück zu Ihren Anfängen. Sie haben als Kammermusiker begonnen und dann sind Sie als Violinist zum London Symphony Orchestra gekommen. Dort haben Sie unter Dirigenten wie Toscanini, Furtwängler und Karajan gespielt. Welche Erinnerung haben sie an diese Zeit?
Ich war damals noch ein sehr junger Musiker und wie alle jungen Musiker, die in einem solchen Orchester spielen durften, war ich voller Begeisterung und Neugierde. Ich wollte lernen und ließ mich natürlich sehr leicht von solchen Persönlichkeiten beeinflussen. Erst später, als ich unter weniger talentierten Dirigenten spielte, lernte ich, Vergleiche zu ziehen. Ich erkannte, was wirkliche Musikalität war, was wirkliche musikalische Autorität, was Technik und was Interpretation war. Und es bestand kein Zweifel daran, welche großartigen Musiker Toscanini, Karajan und Furtwängler waren. Alleine durch ihre Präsenz, ihre Persönlichkeit konnten Sie eine Interpretation von uns erzwingen. Furtwängler, beispielsweise, war ein sehr charismatischer Dirigent, der aber ein schlechter Techniker war. Seine Schlagtechnik musste man eher erahnen, aber gerade durch dieses unpräzise Taktschlagen zwang er uns zu höchster Konzentration. Toscanini war das Gegenteil. Er besaß eine absolut präzise Schlagtechnik und seine Interpretation entwuchs dieser einmaligen Präzision. Ich erlebte allerdings seine letzte Phase. Da war er schon sehr alt und sehr zerbrechlich. Und hörte und sah auch nicht mehr gut. Trotzdem, seine präzise Schlagtechnik erlaubte keine Fehler und auch hier mussten wir sehr konzentriert auf seine Anweisungen achten. Und Karajan war eigentlich eine Mischung aus beiden. Er dirigierte sehr spannungsgeladen und hatte für jedes Werk einen bestimmten Klang im Kopf.

Ende der Fünfzigerjahre gründeten Sie dann die ‘Academy of St. Martin in the Fields’. Kann man sagen, dass die Academy das erste Kammerorchester war, das ohne Dirigent arbeitete und sich um eine möglichst authentische und historische Aufführungspraxis bemühte?
Wir waren sicherlich eines der ersten Orchester, die die barocke Musik wirklich ernst nahmen. Aber vor uns hat es schon ein russisches Orchester gegeben, das versucht hat, ohne Dirigent zu arbeiten. Aber es war ein Symphonieorchester, und ohne Dirigent funktionierte das nicht. Man kann ein hundert Mann starkes Orchester nicht von der Position des Konzertmeisters aus lenken. Das ist unmöglich. Dann hat es noch in England das ‘Boyd Neel Orchestra’ gegeben, ein Amateurensemble, das aber auch einige Aufnahmen von Barockmusik gemacht hat. Die damalige Academy ist eigentlich recht zufällig entstanden. Wir waren eine kleine Gruppe junger Musiker, die regelmäßig zusammenkamen um zu spielen. Wir trafen uns meistens bei mir zu Hause im Wohnzimmer und spielten während zwei Jahren nur aus reiner Freude. Wissen Sie, in einem Symphonieorchester zu spielen, ist eine wunderbare Sache, aber man kann sich individuell kaum entfalten. Und irgendwann muss man dann für sich entscheiden, ob dies einem genügt oder ob man als Musiker seinen Horizont erweitern und sich persönlich weiterentwickeln will. Und wir wollten alle mehr Eigenverantwortung. In der Academy konnte jeder Musiker mitreden und sich persönlich einbringen. Und das machte unheimlich Spaß. Bis unser Pianist Jack Churchill, der Organist in ‘St. Martin in the Fields’ war, ein Konzert in seiner Kirche organisieren wollte. Zuerst wollten wir nicht, taten es dann aber doch. Es sollte eine Ausnahme sein, denn niemand von uns dachte wirklich daran, mit unserem Ensemble regelmäßig aufzutreten. Aber oft kommt es eben anders als man denkt. Nach dem Konzert kam eine australische Dame Louise Dyles auf uns zu. Sie hatte gerade in Paris einen Musikverlag ‘L’oiseau Lyre’ gekauft und fragte uns nun, ob wir nicht Lust hätten, einige Sachen auf Schallplatte einzuspielen. Zuerst zögerten wir, sagten aber schließlich doch zu. Ich weiß noch, jeder von uns erhielt 5 Pfund Gage (lacht). Wir machten also diese Aufnahme mit Werken von Manfredini und anderen barocken Komponisten und erhielten wundervolle Kritiken. Wir waren darüber sehr überrascht, denn für uns war das bis dahin noch eine recht spaßige Sache. Dann wurden andere Schallplattenfirmen auf uns aufmerksam und unsere Arbeit in der Academy wurde immer wichtiger. Sie müssen wissen, wir alle waren damals ja noch fest bei anderen Orchestern angestellt.

Academy+of+St+Martin+in+the+Fields

Welche interpretatorischen Ansätze waren damals für sie wichtig?
Im Krieg begegnete ich in einem Krankenhaus Robin Thurston Dart, einem angehenden Musikwissenschaftler. Er war damals schon sehr an einer historischen Aufführungspraxis interessiert, die sich von den romantisch-breiten Aufführungen der Symphonieorchester distanzierte. Er wurde dann später ein wichtiger Vertreter eines neuen barocken Stils. Wir blieben in Kontakt und er lehrte mich, dieser Musik mit einem anderen Stil zu begegnen. Und das machte mir unheimlichen Spaß. Wir machten mit der Academy dann auch zwei, drei Aufnahmen, u.a. Bachs Brandenburgische Konzerte unter seiner Leitung. Er war aber sehr liberal in seinen Auffassungen und stellte das Musikantische, den Ausdruck immer wieder in den Mittelpunkt. Darts Auffassung der historischen Aufführungspraxis war damals viel weniger akademisch, als es später propagiert wurde. Und der Spielstil der Academy entwickelte sich eigentlich aus Thurston Darts Erkenntnissen. Allerdings wollten unsere Mitglieder, die ja alle Topmusiker waren, auf ihren Stradivari-Instrumenten spielen und somit auch nicht auf das Vibrato verzichten. So entstand ein interessanter Mischstil zwischen neuen Erkenntnissen in Sachen historische Interpretation und einem modernen Instrumentarium. Das Musikalische und Expressive blieb immer das Zentrum unseres Spiels.

Damals wurde Barockmusik ja recht wenig von den Symphonieorchestern und den Dirigenten gespielt. Warum eigentlich?
Weil niemand Barockmusik mochte und sie somit auch niemand gut spielen konnte. Es war unendlich langweilig. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit, wo man Bach, Händel, Corelli unheimlich breit und pathetisch spielte, dazu noch mit einem riesigen Orchester und gelangweilten Musikern. Dazu wurden diese Werke mit einem großen Ernst gespielt, als handele es sich dabei um tief religiöse Musik. Es war einfach schrecklich. Und mit einem kleinen Ensemble wie der Academy entdeckten wir plötzlich, wie wunderbar diese Musik doch sein kann. Wir waren damals eigentlich das erste und einzige Orchester, das Barockmusik so spielte, wie man sie vorher noch nie gehört hatte.

Und das Publikum gab Ihnen Recht. Nicht umsonst ist die Academy bis heute das Kammerorchester mit den meisten Schallplattenaufnahmen.
Das war großes Glück. Die Menschen begannen die Barockmusik neu zu entdecken und bekamen nicht genug davon. Wir waren ein sehr frisches, dynamisches Ensemble und das hörte und spürte man in unseren Konzerten und Aufnahmen. Vor uns lag ein riesiger Katalog mit Werken, die noch niemals eingespielt wurden. Zuerst beschränkten wir uns auf das Streicherrepertoire, aber mit Mozart kamen recht bald Bläser hinzu. Unser Stil bewährte sich auch in diesem klassischen Repertoire. Haydn, Mozart, Beethoven klangen auf einmal ganz anders als mit den Symphonieorchestern. Im Laufe der Jahre wurde die Academy dann größer und größer, und wir wagten uns an Schubert, Mendelssohn, Schumann. Alle wichtigen Schallplattenfirmen wollten mit uns arbeiten, EMI, Decca, Philips, Sony…

Wenn Sie jetzt die Academy der Sechzigerjahre mit der Academy von heute vergleichen, was hat sich verändert?
Ich glaube und ich hoffe, dass sich der Klang nicht viel verändert hat. Ich wollte immer einen sehr klaren, transparenten klang haben. Ich will die Bäume und nicht den Wald sehen. Ich wollte immer ein energievolles, hochkonzentriertes und dynamisches Spiel haben und ich glaube, dieser Stil hat sich bis heute gehalten. Und er hat sich bewährt. Ökonomisch aber hat sich sehr vieles getan. Ich persönlich trauere der Zeit immer noch etwas nach, wo wir nicht so bekannt waren. Es war damals eigentlich viel lustiger und spannender. Wir spielten in kleinen Städten, in kleinen Konzertsälen. Heute treten wir fast nur noch in den weltbekannten Sälen auf, der Berliner Philharmonie, der Carnegie Hall, der Festival Hall in London. Wir sind aber nicht mehr unter uns. Alles ist professioneller, ernster, geschäftlicher geworden. Die ganze Organisation der Konzerte ist so ungeheuer aufwendig geworden und es gibt so viele Leute, die um uns herum tätig sind, dass dieses Familiäre heute nur noch sehr schwer zu finden ist. Aber vielleicht ist das auch der Preis, den man zahlen muss, wenn man berühmt ist. Aber auch die Erwartungen des Publikums sind gestiegen und sind oft einfach unrealistisch. Besonders wenn wir in akustisch wenigen guten Sälen spielen, was ja auch vorkommt. Daran sind natürlich die perfekten Aufnahmen schuld, die man heute in vielen Sitzungen machen kann. Aber eine Aufnahme ist immer ein künstliches Produkt, das versucht, die Musik in das beste Licht zu rücken. Man kann am Mischpult so manches bewirken, was im Konzertsaal nicht funktioniert.

Die Perfektion der CD als Fluch?
So kann man es sagen. Für uns ist der Druck dadurch viel, viel größer geworden. Wir müssen immer gut, ja sogar immer besser sein. Das war früher nicht so. Da waren wir und auch das Publikum viel entspannter und die Konzerte waren nicht durch diesen Eventcharakter geprägt. Ich glaube, wir müssen sowieso umdenken. Vor zwanzig Jahren waren wir noch fast jede Woche im Aufnahmestudio, heute machen wir wenn es gut geht sechs Aufnahmen im Jahr. Die Arbeit verlagert sich also. Wir müssen viel mehr reisen, sind weniger zu Hause. Was schon zu familiären Problemen führen kann. Früher gingen wir ins Aufnahmestudio und abends nach Hause. Und dann und wann ein Konzert. Heute ist das nicht mehr möglich und wir sind oft tagelang von zu Hause weg. Manchmal frage ich mich, wie die jungen Mütter im Orchester das schaffen. Das Musikerleben hat sich vollkommen verändert. Schauen Sie, heute spielen wir beim renommierten Beethovenfest in Bonn. Wir müssen unser Bestes geben. Gestern und vorgestern waren wir im Aufnahmestudio in London, sind gestern Abend spät ins Flugzeug gestiegen, haben während des Tages heute einige Proben und am Abend das Konzert, das wenn möglich, ein hohes Niveau haben soll. Obwohl viele von uns müde sind. Morgen früh geht es wieder zurück nach London zu den nächsten Aufnahmesitzungen. Ein Musikerleben ist oft gar nicht attraktiv. Und wenn man bedenkt, was das noch alles kostet. Die Gagen für die Musiker, der Flug, die Unterbringung in einem guten Hotel, die Verpflegung. Und das alles für 90 Minuten Musik. Das ist schon irgendwie verrückt.

Inwieweit hat sich die Entwicklung der historischen Aufführungspraxis nach Harnoncourt auf den Stil der Academy ausgewirkt?
Die historische Aufführungspraxis hat seit ihren Anfängen Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre – und das kann ich mit gutem Gewissen sagen – keinen Einfluss auf unseren Stil gehabt. Aber, diese Entwicklung hat uns sehr nervös gemacht. Wir bekamen auf einmal eine enorme Konkurrenz in einem Bereich, in dem wir vorher Maßstäbe gesetzt haben. Vielleicht war das auch der Grund, dass wir das rein barocke Repertoire nun den Spezialisten überlassen haben, die eine außerordentlich gute und wertvolle Arbeit leisten. Das Publikum hat sich in den Jahren ja auch weiterentwickelt und verlangt nun bei Bach, Haydn und Vivaldi eine Interpretation, wie sie die Ensembles mit alten Instrumenten heute spielen. Das hat aber wiederum den Vorteil für uns, dass wir uns dem klassisch romantischen Repertoire nun noch intensiver widmen können. Wir wollen unseren Klang, unseren Interpretationsstil nicht ändern. Für viele mag unser Stil heute etwas altmodisch sein, aber die Musiker und ich sind nach wie vor von der musikalischen Qualität der Academy überzeugt. So sehr ich die Pionierarbeit der historischen Ensembles auch schätze, mir persönlicher gibt dieser Stil aus musikalischer Hinsicht keine Zufriedenheit. Aber es ist natürlich nicht auszuschließen, dass, wenn ein neuer Musikdirektor kommt, auch eventuell neue Wege eingeschlagen werden.

Ich glaube, es war der legendäre Pierre Monteux, der Sie überzeugt hat, ein richtiger Dirigent zu werden.
(lacht) Ja, Monteux war zu einem unserer Konzerte mit der Academy gekommen, das ich, wie immer, vom Platz des Konzertmeisters aus leitete. Nach dem Konzert kam er zu mir und sagte: „Nun, Neville, das war sehr gut, aber warum stehst Du nicht auf und dirigierst wie ein Mann? Das hatte ich bis dahin eigentlich nie in Erwähnung gezogen, ich fühlte mich in der Rolle des leitenden Konzertmeisters eigentlich sehr wohl. Monteux lud mich nach Amerika in seine Dirigentenklasse ein. Das war lustig, denn es waren viele Instrumentalisten da, die auch dirigieren wollten, wie der Pianist André Previn oder der Violinist David Zinman. Monteux fragte mich: „Neville, was willst Du denn dirigieren?“ Ich antwortete: „Keine Ahnung, Sie haben mich doch eingeladen.“ „Gut, dann dirigiere, was Du letzte Woche in England mit der Academy gespielt hast.“ Das war Mozarts Jupiter-Symphonie. Bereits nach den ersten Takten unterbrach er mich und gab mir ein anderes, langsameres Tempo vor. Das war alles, was er zu mir sagte. Ich dirigierte am zweiten Tag, am dritten, am vierten. Kein Kommentar. Erst am fünften Tag rief Monteux mich an und sagte: „Nun, Neville, das war schon besser. Aber warum gehst Du in die Knie, wenn Du ein Pianissimo haben willst?“ Das war alles, sein einziger Kommentar! Also erst einmal keine sehr große musikalische Erfahrung für mich. Ich muss aber sagen, dass wir später ernsthafter zusammen arbeiteten. Und ich merkte sehr schnell, dass der Dirigentenstab etwas Magisches an sich hatte. Einmal angefasst, wollte man ihn nicht mehr weglegen. Und alles ging so leicht. Man brauchte sich ja kaum anzustrengen. Als Violinist musste ich üben, üben, üben. Als Dirigent hob ich nur den Taktstock, und die ganze Musik war da (lacht).

Und wie entwickelte sich die Karriere des Dirigenten Neville Marriner?
Langsam. Das Problem war, dass mich damals niemand als Dirigenten haben wollte (lacht). Ich habe eigentlich nur die Academy dirigiert, wenn wir in größerer Besetzung spielten. Nach und nach ist man dann doch auf mich aufmerksam geworden und ich erhielt eine interessante Einladung aus Los Angeles, dort ein Kammerorchester im Stile der ‘Academy of St. Martin in the Fields’ aufzubauen. Ich flog also hin und gründete das ‘Los Angeles Chamber Orchestra’, das heute noch immer existiert. Es war ein abenteuerliches Unterfangen. Wir hatten viele Violinisten aus der Schule von Jascha Heifetz, während die Cellisten alle Schüler von Piatigorsky waren. Und die Bläser kamen von den Filmorchestern der Hollywood Studios. Wirklich fantastische Musiker. Zurück in England kam dann meine Dirigentenkarriere wirklich in Schwung und ich erhielt immer mehr Einladungen von erstklassigen Orchestern.

Woran liegt es eigentlich, dass die Musik von englischen Komponisten in unseren Ländern so wenig aufgeführt wird?
Musikhistorisch gesehen fehlt es England an bedeutenden Komponisten im 18. und 19. Jahrhundert. Zwischen Henry Purcell und Edward Elgar fehlen fast 200 Jahre Musik. Was dazu führte, dass man der englischen Musik keine wirkliche Klasse zutraute und sich auch recht wenig dafür interessierte, was auf der Insel musikalisch geschah. Man muss aber auch sagen, dass England selbst sich im Ausland nie für seine Komponisten eingesetzt hat. Und für ausländische Konzertveranstalter war es immer ein Risiko, Werke von Walton oder Tippet auf das Programm zu setzen. Elgar ging noch. Von Britten werden immerhin einige Werke öfters gespielt. Da muss man an erster Stelle seine Oper ‘Peter Grimes’ nennen, die heute zum Opernrepertoire gehört. Das Problem mit der englischen Musik besteht darin, dass es sich einerseits um englische Musik, andererseits um Musik des 20. Jahrhunderts handelt. Und davor hatte das Publikum Angst. Als ich Chefdirigent in Minneapolis war, waren unsere Konzerte fast immer ausverkauft. Ausnahme: Konzerte mit englischer Musik und mit modernen Werken, auch wenn die Musik von amerikanischen Komponisten stammte.

Wenn Sie jetzt auf Ihre über fünfzig Jahre andauernde Karriere zurückblicken, können Sie dann sagen, dass sich bei den ausführenden Musikern der Zugang zur Musik und die Auffassung von Interpretation wesentlich geändert haben?
Ja! Heute haben die Musiker ein weitaus professionelleres Niveau als zu meiner Zeit. Ich erinnere mich an ein Konzert, das wir mit dem ‘London Symphony Orchestra’ bei den Proms unter der Leitung von Henry Wood spielten. Das Konzert dauerte insgesamt vier Stunden, war also sehr, sehr lang. Wir hatten dafür nur eine Probe von knapp drei Stunden. Wir spielten das ganze Programm nicht einmal ganz durch, dafür reichte die Zeit nicht. Es wurden nur grobe Tempofragen geklärt und einige solistische Einlagen kurz geprobt. Das Resultat hing dann sehr vom Moment ab, allerdings kümmerte das niemanden. Und diese Haltung gab es fast überall. Bis Karajan zum neugegründeten ‘Philharmonia Orchestra’ kam. Karajan und der Schallplattenproduzent Walter Legge setzten immer sehr viele Proben an. Ihre Philosophie bestand darin, zuerst eine Schallplattenaufnahme zu machen, die natürlich möglichst perfekt sein sollte. Und erst danach führte man das Werk im Konzert auf. Bei einer solchen Vorgehensweise waren die Konzerte des Philharmonia natürlich viel besser, als die der anderen Londoner Orchester. Karajan setzte damals das Niveau fest und die Messlatte damit sehr hoch. Alle anderen Orchester versuchten nun, dieses hohe Niveau zu erreichen. Nach und nach wurde dann das spielerische Niveau der englischen Orchester besser. Heute ist die Ausbildung der Orchestermusiker hervorragend, sowohl auf technischen wie auch auf intellektuellem Gebiet. Und nur die besten werden verpflichtet. Mit solch hochkarätigen Musikern, die heute aus aller Welt kommen, besitzen dann auch die Symphonieorchester ein spielerisches Niveau, das man nicht mehr toppen kann. Aber mit der Internationalisierung der Orchester wächst auch das Risiko, dass der individuelle Klang der Orchester verlorengeht.

 

  • Pizzicato

  • Archives