Diese Oper von knapp eineinhalb Stunden Dauer besteht aus drei einzelnen in sich geschlossenen Geschichten, verbunden durch Zwischenspiele, die alle das Thema des Unsichtbaren, also den Tod behandeln. Dazu hat Aribert Reimann drei Theaterstücke des belgischen Schriftstellers und Dramatikers Maurice Maeterlinck selber zu einem Libretto gefasst und vertont. In ‘Der Eindringling’ (L’Intruse) nähert sich ein Unsichtbarer der Familie am Tisch. Daraufhin schreit das Neugeborene und die Mutter stirbt im Kindsbett. In ‘Intérieur’ hat der Fremde nach dem Suizid die tote Tochter einer Familie gefunden. Er und der Alte zögern jedoch, die Botschaft der Familie zu überbringen. Als sich die Dorfbewohner mit der Leiche nähern, übernimmt der Alte die Aufgabe. In ‘Der Tod des Tintagiles’ lässt die Königin ihren Enkel ins Schloss holen, um den Nebenbuhler zu beseitigen. Seine Schwestern wollen ihn schützen, aber im Endeffekt töten die Dienerinnen das Kind.
Die Verknüpfung erzielt Reimann auf vielfältige Weise. Zum einen erhält fast jede Person auf der Besetzungsliste mehrere Rollen. Eine weitere Verknüpfung erreicht er über die drei Todesboten im Eingangsstück, die in den Zwischenspielen und als Dienerinnen der Königin ebenfalls auftreten. Sie sind sowohl Außenstehende, die kommentieren, als auch Handelnde agieren. Musikalisch ersetzen die atonalen Akkorde als Träger die Binnenspannung, die sonst der melodischen Linie zukommt. Das im Grunde romantische Orchester ist in den Holzbläsern erweitert, dafür im Schlagzeug auf Trommel und Gong limitiert. Aber Reimann differenziert von Stück zu Stück die Besetzung. Er fängt in ‘L’Invisible’ allein mit den blockartig spielenden Streichern an, bis der Schrei des Kindes durch einen herausgeschmetterten Holzbläserakkord symbolisiert wird. Dieser Todesakkord kehrt wieder, später von den beiden Harfen begleitet.
In ‘L’Interieur’ treten zunächst nur die Holzbläser in Aktion, die kammermusikalische Texturen spielen. Erst im Verlauf gesellen sich die anderen Orchestergruppen hinzu. Nach dem Schrei des Kindes kommt mit der Entführung Tintagiles der zweite Aufschrei mit einem Orchestertutti. Im Sinne einer Wiederkehr des Immergleichen schließt die Oper mit der Umkehr der Cellopassage vom Beginn.
Die Deutsche Oper hat Reimann seit seinem Studium begleitet, als er noch beim Vorgängerhaus als Korrepetitor anfing, mit prägenden Größen wie Martha Mödl und Dietrich Fischer-Dieskau zusammen arbeitete und die zwischenzeitlich fünf Opern von ihm aus der Taufe gehoben hat.
Der Mitschnitt aus verschiedenen Aufführungen zeigt Reimann als instinktsicheren Komponisten, der handwerklich meisterhaft arbeitet. Seine Orchesterstimmen umspielen die Figuren, treiben und tragen sie aber auch. Musikalisch findet der 81-jährige Tonsetzer zu einer entspannten Tonsprache, die ohne Aufgeregtheit und Hysterie auskommt. Anklänge an die zweite Wiener Schule kann man ebenso erahnen wie das anfängliche atmosphärische Flirren, das an Debussy erinnert, in seinem Maeterlinck-Werk ‘Pelléas et Melisande’.
Mitreißend sind die unerhörten Melodien und Orchestrationen zu Beginn des dritten Teils, mit denen Reimann das Grauen malt. Durch die unterschiedliche Instrumentation der Teile trennt er sie sauber voneinander und erzielt durch die anschwellende Orchestrierung eine atemberaubende Steigerung und Dramatik. Und schafft dadurch auch eine Einheit.
Die Gesangssolisten verkörpern, wie erwähnt, zumeist mehrere Rollen. Herausragend in ihrem stimmlichen Engagement ist zunächst Rachel Hamisch mit ihrer Dreifachrolle. Neben Annika Schlicht, Seth Carico, Thomas Blondelle, Ronnita Miller und dem Knaben Salvador Macedo in einer Sprechrolle, führt Stephen Bronk die Equipe der weiteren Mitwirkenden an, die sich alle von ihrer besten sängerischen Seite zeigen. Die Countertenöre Tim Severloh, Matthew Shaw und Martin Wölfel nutzen ihre Rolle als Dienerinnen der geheimnisvollen Königin natürlich als Steilvorlage für diverse virtuose Kunststücke.
Das Orchester der Deutschen Oper und sein GMD Donald Runnicles (der an einem Aufnahmeabend durch seinen Assistenten Ido Arad ersetzt wurde) sind mit hoher Spielkultur bei der Sache, um die Klippen der Partitur zu umschiffen. Ihnen gelingt es, die Schattierungen und auch die Aufschreie so morbide zu gestalten, dass der Tod zur klanglichen Lust wird.
Alle Beteiligten zusammen gestalten eine beeindruckende Opernnovität über den Tod, ohne den das Leben nicht zu feiern ist.