Eine außergewöhnliche Lesart von Ravels ‘Gaspard de la nuit’ und Mussorgskys ‘Bildern einer Ausstellung’ bietet die mexikanische Pianistin Leticia Gomez-Tagle. Wer sich auf ein farbenprächtiges Feuerwerk einstellt hat, der wird allerdings enttäuscht.Die Pianistin vermeidet alle gängigen Klischees bei Ravel und Mussorgskys und geht bei dem einen, Ravel, jeder stimmungsseligen Farbmalerei, bei dem anderen, Mussorgsky, jedem virtuosen Ausbruch aus dem Weg. Dies wirkt beim ersten Höreindruck etwas seltsam, denn der Hörer muss seine Gewohnheiten wirklich umstellen und bereit sein, sich auf eine unorthodoxe Interpretation einzulassen.
Leticia Gomez-Tagle setzt sich in die Rolle eines Beobachters und scheint sich selbst beim Spielen zuzusehen. Klare, objektive Linien sind Trumpf, zu viel Farbe, zu viel expressives Gehabe werden tunlichst vermieden. Gomez-Tagles ‘Bilder einer Ausstellung’ leben nicht, sie erzählen keine Geschichten, sondern werden vielmehr von außen beschrieben. Objektiv, klar und eigentlich emotionslos. Aber gerade durch diese distanzierte Sichtweise erlebt der Hörer beide Werke auf eine ganz neue, interessante Art und Weise. Es ist eine Interpretation ohne musikantischen Charakter, dafür herrschen Strenge und Ernst vor. Dies ist sicherlich keine Aufnahme, die man als mitreißend oder schön bezeichnen will und dennoch vermag sie dem Hörer oft viel mehr zu sagen als eine auf Virtuosität und Klangfarben zentrierte Interpretation. Verbunden werden beide Werke durch zwei Schubert-Lieder in der Transkription von Franz Liszt: ‘Der Müller und der Bach’ sowie ‘Auf dem Wasser zu singen’. Auch hier gilt strenge Objektivität und siehe da, so überzeugend unromantisch kann romantische Musik sein.