Als er Liszt-Konzerte unter Papa Jean-Jacques Kantorows Leitung für BIS spielte, hatte ich das Gefühl, der Vater sollte seinen Sohn Alexandre besser in die freie Wildbahn lassen. Jetzt ist der da angekommen. Und ich sage Wow! In der Agosti-Transkription von Stravinskys ‘L’Oiseau de Feu’ (Danse infernale, Berceuse, Finale) erklingt ein pianistisches Feuerwerk ohnegleichen. Es ist nicht nur die Fingerfertigkeit, die fasziniert, sondern die Klangkunst. Ob der Vielfältigkeit und Transparenz dessen, was man hört, drängt sich die Frage auf: Spielt der Mann wirklich allein? Nicht einmal in Achilleas Wastors vierhändiger Fassung kommt ein solcher Klangreichtum zustande.
Doch zunächst einmal zeigt Kantorow, dass er nicht ein reiner Virtuose ist, sondern auch ein Musiker, der Musik empfinden und gestalten kann. Rachmaninovs Erste Klaviersonate op. 28, die zwischen 1907 und 1908 komponiert wurde, ist fast 40 Minuten lang und verlangt vom Interpreten strukturelles Denken, Erfahrung im Umgang mit einem Programm – Rachmaninov hat hier Goethes ‘Faust’ ins Spiel gebracht – und in diesem besonderen Fall mit der Unterscheidung von Motiven, weil Rachmaninov ja « drei gegensätzliche Charaktere » beschreibt, Faust, Mephisto und Gretchen. Der erste Satz befasst sich mit Faust, und Kantorow setzt das Grüblerische, das Zwiespältige genauso packend um wie die Thematisierung von Auerbachs Keller und der Hexenküche. Im langsamen Gretchen-Satz kommt viel genuine Poesie mit größter Natürlichkeit zum Ausdruck, ohne Süße und Pathos. Der Mephisto-Satz ist voller Kontraste und Dramatik, rhythmisch ungemein faszinierend gestaltet, weil der Pianist nicht auf effekthascherische Virtuosität setzt, sondern wunderbar differenziert und so den Satz musikalisch reicher werden lässt als man ihn schon oft gehört hat.
Auch Tchaikovskys ‘Méditation’ und ‘Passé lointain’ zeigen die Klang- und Gestaltungskunst des zwanzigjährigen Pianisten.
Und damit ist es dann auch schon klargeworden: Kantorow ist kein gnadenloser Techniker, sondern ein Pianist, der sich am Klavier in die Musik vertieft und sie mit ebenso viel Spontaneität wie Empfinden spielt. Er ist ein Pianist, der jenseits des Technischen die Musik gefunden hat.
Tchaikovskys ‘Scherzo à la russe’ zeigt ebenfalls die schon fast als genial zu bezeichnete Farbenkunst Kantorows, und getoppt wird das dann noch im Balakirevs ‘Islamey’, einem Stück, das viele Pianisten zum puren Showstück verkommen lassen, weil sie einfach nur ‘draufhauen’. Kantorow interessiert sich aber für den Untertitel ‘Eine Orientalische Fantasie’ und spielt die Komposition entsprechend farbig, quirlig und differenziert. So kommen Stimmungen zum Ausdruck, wie sie nur wenige Pianisten erzielt haben, und das ganze Stück durchzieht ein Wechsel zwischen Spannung und Entspannung, zwischen funkelnd frenetischem Notenfeuerwerk und fein dosierten Klangdüften. Das ist eine Interpretation mit unbändigem Spieltrieb und der Lust am Fantastischen.