Ihr Album Romances mit Liedern von Sergei Rachmaninov hat überall glänzende Kritiken erhalten. Was bedeutet Rachmaninovs Musik, bez. diese Lieder für Sie als Musiker?
Beata Szalwinska: Rachmaninov gelingt es, wundervolle Texte mit einer sehr expressiven und auch virtuosen Musik zu kombinieren. Text und Musik finden zu einer völligen Einheit zusammen. Und ich hatte als Pianistin das Glück, mit einem Sänger wie Alexander Anisimov zusammenzuarbeiten, der den Gehalt der Texte wunderbar in seinem Gesang vermitteln kann.
Aleksander Anisimov: Viele der Romanzen dieser CD sind gar nicht für Bass komponiert und mussten erst einmal transkribiert werden. Und eine gute Transkription ist ungemein wichtig, weil russischer Gesang sich grundsätzlich vom europäischen oder amerikanischen Stil unterscheidet. Das ist schwer zu erklären und hängt sicherlich mit der russischen Art und Weise der Artikulation zusammen. Bei russischen Sängern entsteht der Ton tiefer im Körper und fließt demnach anders aus der Kehle als bei europäischen Sängern, wo der Klang etwas höher entsteht und anders ausgesungen wird. Das hat dann wieder einen Einfluss auf Vibration und Tonentfaltung. Überhaupt ist die ganze Gesangstradition eine komplett andere. Der europäische Sänger singt leichter, lyrischer. Ich habe ja sehr viel an europäischen und amerikanischen Häusern wie der Scala, der Dresdener Semperoper, der New Yorker MET oder der Lyric Opera of Chicago gearbeitet. Und bin mit vielen nichtrussischen Kollegen aufgetreten. Samuel Ramey und ich haben immer gegenseitig voneinander gelernt, so dass ich mich nicht ausschließlich als typischen russischen Sänger betrachte, weil sich in meinem Gesang auch andere Einflüsse in Sachen Artikulation finden.
Wenn ich mir diese Aufnahme anhöre, so fallen mir im Klavierpart eine gewisse Leichtigkeit und eine ungewöhnliche Transparenz in der musikalischen Gestaltung auf.
B.S.: Leider ist es so, dass Rachmaninovs Musik auch heute oft noch sehr schwer und kompakt gespielt wird. Das kann man vielleicht bei seiner Orchesterwerken und seinen Klavierkonzerten akzeptieren, bei seinen Liedern funktioniert das aber überhaupt nicht. Rachmaninov war ein Meister der kleinen Form. Das wird hier deutlich. Aber man muss es erkennen, dann eröffnen sich einem ungeahnte interpretationsräume. Und ich liebe, es die Musik etwas altmodisch, ja romantisch zu spielen, so wie wir sie von den großen Meistern her kennen. Heute fehlt mit oft das Musikantische, das Poetische in den Interpretationen. Rachmaninovs Musik bietet doch dabei so viele Farben und Emotionen. Natürlich sind auch die Transkriptionen von Earl Wild und insbesondere von Frédéric Meinders hervorragend. Meinders ist ein Stilist, er verändert nichts und hält sich exakt an Rachmaninovs Vorgaben. Wild ist dagegen etwas freier.
Und das typisch Russische findet sich dann auch in der Sprache von Rachmaninov wieder.
A.A.: Natürlich. Vergleichen Sie nur die Lieder von Franz Schubert und Sergej Rachmaninov. Da liegen Welten dazwischen, musikalisch sind sie gar nicht vergleichbar. Genauso verhält es sich mit dem Gesangsstil. Ich kann Schubert-Lieder nicht auf russische Weise singen, das geht nicht, genauso wie man Rachmaninov nicht aus einer europäischen Tradition heraus gestalten kann. Ich werde als russischer Sänger nie so singen wie Thomas Hampson und er nie wie ich. Und das ist auch gut so. So bleibt die Musik, die wir machen individuell und vielseitig. Allerdings soll man als Interpret nur Lieder oder Opernrollen singen, wenn man sie stilistisch richtig beherrscht.
B.S.: Das ist das eine. Aber es gehören auch noch eine gehörige Portion Intuition und Begabung dazu. Es ist äußerst wichtig, dass man als Sänger die Fähigkeit hat, den Text und die Musik in ihrem Kern zu begreifen und sie auch so zu gestalten. Und dann kommt noch das Physische ins Spiel….
A.A.: ..genau. Singen hat ungemein viel mit der Physis zu tun und ist regelrecht ein körperlicher Akt. Nur wenn man frei singen kann, die Stimme als einen Teil seines Körper sieht und den Körper als Medium und Instrument betrachtet, kann sich eine Einheit zwischen Gesangstechnik, musikantischer Stimmführung und Interpretation bilden. Für viele russische Künstler ist der Gesang sehr eng mit dem Empfinden von Freiheit verbunden. Erst wenn man sich austauschen kann, wenn man frei von Zwängen ist, kann sich die Stimme wirklich frei entwickeln.
Was jetzt das Repertoire anbetrifft, was wir auf CD aufgenommen haben, war das schon eine Umstellung. Einerseits mussten die Lieder für Bass umgeschrieben werden, andererseits kann man ein Lied nicht so singen wie eine Arie. Wir haben deshalb auch wochenlang zusammen geprobt und gearbeitet, um ein stimmiges Gleichgewicht zu finden. Rachmaninov hat seine Romanzen so komponiert, dass das Klavier ebenso wichtig ist wie der Gesang. Und Beata ist eine sehr expressive Pianistin, die jedes Lied sehr genau und detailreich ausleuchtet und immer die richtigen Farben findet. Zwischen ihrem teils sehr virtuosen Spiel und meinem Gesang musste erst einmal eine natürliche Balance gefunden werden, denn eine Bassstimme ist längst nicht so wendig und schnell wie ein Klavier. Ihr Spiel berührt mich tief und hat natürlich einen großen Einfluss auf meinen Gesang.
B.S.: Ja, und umgekehrt hat mit Alexander den russischen Text und die damit verbundenen Emotionen genau erklärt, denn jedes kleine Detail ist für die gemeinsame Interpretation wichtig. Als wir dieses Programm in der Carnegie Hall aufführten, waren die Leute begeistert. Sie haben die Rachmaninov-Lieder nicht gekannt und unsere Interpretation hat sie tief berührt, wahrscheinlich, weil wir uns musikalisch so gut abgestimmt hatten und so genau das übermitteln konnten, was Rachmaninov beabsichtigte.
A.A.: Bei einem Live-Auftritt, weiß man nie, was passiert. Das hängt von so vielen Faktoren ab, aber ja, an diesem Abend in der Carnegie Hall stimmte einfach alles.
Was zeichnet Sie beide als Duo denn besonders aus?
B.S.: Ich glaube, Alexander und ich scheuen es nicht, Risiken einzugehen. Ich muss mich einfach hundertprozentig, ausdrücken können, ich muss ans Limit gehen und die Musik im Moment grenzenlos gestalten, aber immer im Sinne des Komponisten und des Werkes. Virtuosität als Selbstzweck vermeide ich. Als Opernsänger besitzt Alexander dieses Talent der Gestaltung sowieso. Er hat das dramatische Feeling im Blut und weiß ganz genau, wie er einen Text vortragen soll. Und seine Stimme kennt kaum Grenzen.
Wie haben Sie sich die Lieder denn erarbeitet? Prima la musica oder prima la parola?
B.S.: Für mich war es eine besondere Situation. Ich bin eine Konzertpianistin, ich muss mich ausdrücken können. Deshalb sehe ich mich nicht unbedingt als eine ideale Liedbegleiterin, die dem Sänger einen pianistischen Teppich ausrollt, auf dem er sich frei entfalten kann. Das entspricht nicht meinem Naturell. Ich durfte auch bei dieser Aufnahme fünf Romanzen spielen, die für Solo-Klavier, also ohne Gesang arrangiert worden waren, davon eine Transkription Daisies von Rachmaninov selbst, die anderen von Frederic Meinders.
A.A.: Was diese Aufnahme betrifft, so war es eine wirkliche Zusammenarbeit. Ein Geben und Nehmen. Wir erarbeiteten uns Text und Musik Phrase für Phrase. Manchmal war der Text dominant, aber oft fand Beata auch intuitiv den richtigen Ton, der dann meine persönliche Gestaltung wiederum beeinflusste. Und Rachmaninov, resp. die Komponisten, die für Transkriptionen verantwortlich waren, machten es uns einfach, da bei diesen Liedern Stimme und Klavier gleichwertige Partner sind.
Wie sind Sie bei der Auswahl vorgegangen?
B.S.: Rachmaninov hat mehr als 80 Romanzen komponiert, davon etliche ohne Opuszahl. Wir haben uns von unserem Gefühl leiten lassen und wollten möglichst viele verschiedene Geschichten, Stimmungen und Farben präsentieren. Also ein abwechslungsreiches Programm. Dabei sind dann auch einige spieltechnisch relativ schwierige Stücke wie beispielsweise Spring Waters. Wir standen dann auch in ständigem Kontakt mit Frédéric Meinders, der unsere Arbeit sozusagen supervisierte.
Sie haben vorhin gesagt, Meinders bliebe bei seinen Transkriptionen näher am Original als beispielsweise Earl Wild.
B.S.: Ja, Meinders folgt sehr genau den Anweisungen von Rachmaninov und versucht, seine Transkriptionen quasi 1:1 zu gestalten. Earl Wild war als Amerikaner natürlich Gershwin-geprägt und diesen amerikanischen Stil findet man auch in seinen Rachmaninov-Transkriptionen. Vor allem hat er sehr frei gearbeitet, viele eigene Noten hinzugefügt und das Original nach seinem Geschmack verändert. Mit einem Resultat, das ich persönlich oft nicht so gut finde. Allerdings sind Wilds Transkriptionen aus pianistischer Sicht sehr interessant. Und ich bin eine Musikerin, die gerne in neues Terrain vorstößt und sich auch mal von den ewigen Klassikern wie Beethoven, Schubert oder Mozart löst, um andere, oft wenig bekanntere Richtungen auszuprobieren. Es gibt natürlich auch Ausnahmepianisten wie beispielsweise Arcadi Volodos, die selbst die großen Klassiker in einem komplett neuen Licht erscheinen lassen. Oder Yuja Wang, die die Musik von einem ganz anderen Standpunkt angeht. Weniger poetisch, dafür aber mit einer ungeheuren Virtuosität.
In der Musikbranche entwickeln sich bei Instrumentalisten ja immer wieder neue Interpretationsstile. Wie sieht es denn im Bereich der Oper oder des Gesanges aus?
A.A.: Es gibt heute sicher eine Menge guter Sänger. Aber es gab tatsächlich einen entscheidenden Wendepunkt in meinen Augen. Und der kam mit der Entwicklung der CD, die zeitgleich geschah, als die große Ära einer Mireilla Freni, eines Placido Domingo oder eines Luciano Pavarotti sich dem Ende näherte. Das kleine kompakte Format der CD eignete sich hervorragend, um auf der ganzen Welt verkauft zu werden und bot den Künstlern ein ideales Medium, um sich selbst zu vermarkten. Früher, zu Vinylzeiten, war es nur den arrivierten Stars vorbehalten, Aufnahmen zu machen. Mit der CD konnte sich nun quasi jeder in optimaler Klangqualität präsentieren. Viele Menschen gingen nicht mehr ins Opernhaus, weil sie eben eine perfekte Aufnahme auf CD hatten, die sie bequem zuhause hören konnten. Viele Opernsänger, die eigentlich kleine Stimmen hatten, nutzen ihre Chance und wurden auf CD aufnahmetechnisch so in Szene gesetzt wurden, dass sie ‘groß’ klangen. Und wenn solch ein Sänger auf der Opernbühne steht, dann sind die Leute enttäuscht, weil das dann überhaupt nicht übereinstimmt mit dem, was sie von der CD her kennen. Dabei singen diese Sänger oft wunderschön und berühren auf CD zutiefst, auf der Bühne passt es aber dann nicht mehr. Zudem haben sich die Hörgewohnheiten des Publikums im Laufe der letzten Jahrzehnte stark verändert. Aber das ist wiederum ein anderes Thema…