Mit Szymon Nehring gab in der vergangenen Woche einer der avanciertesten polnischen Nachwuchs-Pianisten sein Debüt in der Berliner Philharmonie. Das Solo-Rezital im Rahmen der Reihe Debüt im Deutschlandfunk Kultur mit Werken von Chopin, Szymanowski und Prokofjew wurde vom ausrichtenden Sender live ausgestrahlt. Nehring gewann u.a. 2017 den 15. Internationalen Klavierwettbewerb Arthur Rubinstein in Tel Aviv und gehörte zu den Finalisten des 17. Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2015 in Warschau. Der mit zahllosen CD-Auszeichnungen dekorierte Pianist wurde 2018 zudem von der Jury der International Classical Music Awards mit einem Outstanding Young Polish Artist Award geehrt. Zu den wesentlichen Aufgaben des ICMA-Gremiums gehört traditionell auch die kontinuierliche mediale Begleitung der von ihm ausgezeichneten Nachwuchskünstler im Nachgang der jährlichen Awards-Feierlichkeiten. Vor diesem Hintergrund besuchte ICMA-Jurymitglied und -Board Member Martin Hoffmeister das Berlin-Konzert Nehrings. Pizzicato sprach mit dem Publizisten.
Herr Hoffmeister, Sie konnten Szymon Nehring in den vergangenen Jahren immer wieder in unterschiedlichen Konzertformaten in Polen, Deutschland und Europa hören. Ein paar Worte zum künstlerischen Status quo des Pianisten…
Nehring steht in diesen Tagen vor dem Absprung in eine nachhaltige internationale Karriere. Nach dem hervorragenden Ergebnis beim Warschauer Chopin Wettbewerb vor fünf Jahren und dem ersten Platz in Tel Aviv hat er den richtigen Weg eingeschlagen. Er hat zunächst weiter an sich gearbeitet, hat, ganz wesentlich, seine Rolle und die Herausforderungen einer Musikerkarriere grundlegend reflektiert und sich Zeit genommen, um Repertoire zu erarbeiten und künstlerisch zu reifen. Er hat entsprechend nicht den Fehler gemacht, sich indifferentem Marketing auszuliefern, um kurzfristig Erfolge oder Aufmerksamkeit zu generieren. Und nachdem er sukzessiv auf polnischen Podien hatte reüssieren können, führen ihn Gastspiele heute bereits in den Wiener Musikverein oder die New Yorker Carnegie Hall.
Entscheidend bei Musikern dieses Alters und in dieser Phase der Karriere ist immer, ob sie mental in der Lage sind, das was mit Ihnen und um sie herum geschieht, auszuhalten und angemessen einzuordnen wissen. Man muss als junger Musiker mit dem Druck, der einen tagtäglich begleitet, im Übrigen auch mit den Erfolgen, umgehen können. Nicht selten werden Hochbegabte zur Unzeit von den Begleiterscheinungen des Betriebs überrollt und Karrieren scheitern. Szymon Nehring bringt alle Voraussetzungen mit, um auf diese komplexen Herausforderungen balanciert zu reagieren.
Wenn man jüngere Musiker über Jahre beobachtet, dann rücken im besten Fall künstlerische Metamorphosen und Entwicklungsprozesse in den Fokus. Welche signifikanten Veränderungen sind Ihnen bei Nehring aufgefallen?
Als Pianist vermag man bereits im Alter von 15, 18 oder 20 Jahren mit gediegenem Handwerk und gewissen gestalterischen Anlagen zu überzeugen. Allerdings ist man ebenso damit beschäftigt, sich zu verorten als Persönlichkeit und Künstler. Man sucht seinen Weg, probiert sich aus und ist vorteilhaften oder weniger vorteilhaften Einflüssen und Prägungen ausgesetzt. Wenn man Glück hat, fungieren Eltern und Lehrer in dieser Phase als besonnene Korrektive. Gerade wenn hochbegabte Musiker in frühen Jahren, beflügelt von der eigenen Größe, in den Karrierehimmel aufsteigen wollen, brauchen sie den ernsthaften Dialog und, bisweilen, die rote Ampel.
Nehring konnte sich offensichtlich auf sein Umfeld verlassen. Er hat in den letzten Jahren markante Entwicklungsschritte gemacht. Wer ihn heute auf die Bühne und an den Flügel treten sieht, erkennt eine Pianisten-Persönlichkeit, die mit sich im Reinen ist, die Gewissheit ausstrahlt und die vertrauen kann auf ihre handwerklichen und gestalterischen Potentiale. Auch für gestandene, renommierte Musiker ist es keineswegs selbstverständlich, ein Debüt in der Berliner Philharmonie zu absolvieren, live im Kultur-Radio übertragen zu werden und, durchaus in sich ruhend, überlegen den eigenen und den Anforderungen eines erfahrenen Publikums gerecht zu werden, mit einem Programm zumal, das unbedingte Konzentration und technische Souveränität verlangt.
Solche künstlerischen, auch pianistischen, Reifungsprozesse, die lassen sich konkret vor allem verifizieren an Exegesen einzelner Werke, die man mehrfach von ein und demselben Musiker hören kann. Wie sah Nehrings Werke-Tableau in Berlin aus?
Für den ersten Konzertteil hatte Nehring drei Chopin-Mazurken op. 56 und dessen Sonate Nr. 3 h-Moll op. 58 ausgewählt. Nach der Pause folgten vier Mazurken op. 50 von Karol Szymanowski, Prokofievs Sonate Nr. 6 A-Dur op. 82 und, als Zugaben, Werke von Ignazy Jan Paderewski. Natürlich will ein solches Tableau, eine solche Werkauswahl als Statement verstanden werden. Da bekennt sich ein Pianist deutlich zu seiner musikalischen Sozialisation und damit auch – im Falle Szymanowskis und Paderewskis – zu Werken, die im Konzertkanon kaum Berücksichtigung finden. Welches dramaturgische Raffinement Nehring entlang dieser Werke-Abfolge hat walten lassen, wurde vielen im Publikum wohl erst mit den letzten Konzert-Sequenzen bewusst, als nach den drei unbekannteren Chopin-Mazurken, der verdichteten, hochemotionalen Chopin-Sonate mit Szymanowskis Mazurken zunächst die freundliche Dekonstruktion der Gattung folgte und schliesslich mit Prokofievs 6. Sonate die Wendung in abstraktere, existentiell aufgeladenere Klangwelten des 20. Jahrhunderts vollzogen wurde. Das Finale mit Paderewski-Zugaben schließlich markierte die Vollendung des klanglichen Bogens, indem die Verbindung zu den einleitenden Mazurken hergestellt wurde. Dabei zeigte sich allerdings auch deutlich, dass Paderewskis Werke dem Salon-Genre wesentlich offensiver zuneigen als Chopins verfeinerte Klangpreziosen.
Wie hat Szymon Nehring die klangliche und stilistische Vielfalt, die spieltechnischen Herausforderung des Programms bewältigt?
Besonders bewegend und sinnfällig an diesem opulenten Rezital war dessen Suggestivkraft, die zum einen aus dramaturgischer Sophistikation generiert wurde, zum anderen aber auch aus gestischen und pianistischen Verdichtungen und Steigerungsmomenten. In diesem Zusammenhang erwähnt werden muss ebenso Nehrings Affinität zur überraschenden Volte. Der Pole suchte, wie so oft, auch an diesem Abend, nie nach naheliegenden interpretatorischen Lösungen. So stand etwa der tänzerische Aspekt der Chopin-Mazurken nicht plakativ im Vordergrund. Es schien eher, als wolle Nehring die Bewegung in fragile Schwebe transzendieren. Nicht nur die Lautstärke-, auch die Dynamik- und Tempi-Werte bewegten sich eher am mittleren und unteren Limit. Damit verzichtete Nehring wohltuend auf pianistische Kraftmeierei. Er setzte weniger auf Zuspitzung als auf Verfeinerung und Entgrenzung. Demgegenüber wusste er Momente der Stille und Einkehr mit konturierter Pianistik, Luzidität und agogischer Finesse auszufüllen. Unangestrengt, zugleich markant ausmodelliert präsentierte sich auch Nehrings Lesart der Chopin-Sonate, die er ohne unangemessenen virtuosen Budenzauber auszulesen vermochte. Selten einmal vernahm man vergleichbar höchste spieltechnische Anforderungen in Einklang, in Verbindung mit einer Atmosphäre der Zerbrechlichkeit, der Introversion und lyrischer Zwischenwelten. Nehrings Chopin-Exegesen präsentierten eine Dimension der Durchdringung und Clarté, die den großen Tastenwerken Bachs angemessen wären.
Bleibt der abschließende Blick auf die zweite Konzerthälfte mit Werken von Szymanowski und Prokofiev…
…eine veränderte Ausgangslage, der Nehring natürlich Rechnung trägt, allerdings auch in diesem Fall anders als man vielleicht erwartet hätte, denn er agierte zwar deutlich markierter, ohne aber auf die eingeführte, grundsätzliche Zurückgenommenheit zu verzichten, eine Zurückgenommenheit, die man sich leisten können muss als Pianist, denn nicht wenige kompensieren fehlende Durchdringung mit Forcierung. Eindrücklich vor diesem Hintergrund, wie Nehring Szymanowskis vielgesichtigen, reichkolorierten, enigmatischen Mazurken Kontur verleiht mit einer Pianistik, die der Nuance, dem Fragil-lyrischen ebenso zugewandt ist wie Analytischem und abstrahierender Einlassung. Genau dieser Qualitäten bedarf auch eine schlüssige Exegese von Prokofievs Sechster Sonate, einem Werk gezeichnet von unruhigen resp. bedrohlichen Zeitläuften. Mit Überblick, pianistischer Beweglichkeit, handwerklicher Grandesse, Stil- und Geschmackssicherheit vermochte Nehring die kontrastreichen, zwischen Brutalität, Trauer, Dunkel, Ironie, Zynismus, jazziger Verve und Heiterkeit oszillierenden Tableaus zu einem konsistenten Ganzen zusammenzubinden.