Der Eindruck, der den Interpretationen der Shostakovich-Symphonien durch das ‘Boston Symphony Orchestra’ unter Andris Nelsons anhaftet, bei aller technischen Klasse die Tiefen der Interpretationsmöglichkeiten nicht auszuloten, zeigt sich auch bei dem im März letzten Jahres aufgezeichneten Konzert mit dem anderen Orchester, dem er ebenfalls als Chef verbunden ist.
Die Musiker des Gewandhauses sind großartige Musiker, die zu ihrem Können und ihrer Musikalität noch den besonderen Klang ihres Orchesters beisteuern und auch auf den Bildern des Konzertmitschnitts ihr Engagement nicht vermissen lassen.
Aber die teilweise großen Gesten des Maestros für die Kamera lassen nicht immer besondere Töne erklingen. Die Symphonie KV 550 von Mozart, die im Gewandhaus ihre Uraufführung erlebte, wird ohne Zweifel in einer klassisch sauberen Interpretation dargeboten. Da gibt es nichts zu deuteln. Und einige kleine Details wie ein angenehm fließendes Tempo für das Andante lassen auch momentweise aufhorchen. Aber im Ganzen betrachtet kommt es nicht zu einem Aha-Effekt, den man möglicherweise von der ‘Hochzeit im Himmel’ von Nelsons mit dem Gewandhaus erwartet hatte.
Während die Hochzeit im Himmel, die die Fusion von Daimler und Chrysler betitelte, inzwischen gescheitert ist, wollen wir hoffen, dass der gemeinsame Weg von Gewandhaus und ‘Boston Symphony’ mit Nelsons noch deutlich bessere Nachrichten produzieren wird.
Auch bei der ‘Pathétique’ von Tchaikovsky gibt es viel Sonne, aber keinen strahlend blauen Himmel. Nun wird mancher einwenden, dass hier vielleicht auch eher dunkle Wolken und keine reine Freude zu zeigen sind. Das stimmt, aber es ist eher so, dass man die Wolken sieht, aber die Beklemmung nicht fühlt.
Die Interpretation der Symphonie Nr. 6 ist technisch wieder vom Feinsten. Und auch die Gestaltung zeigt Stärken. So hat Nelsons in den langsameren Passagen nicht die geringste Furcht vor dieser Langsamkeit. Ohne auch nur den geringsten Hauch von Ungeduld wird jeder Moment ausgekostet und die Musik bekommt genau die Zeit, die sie braucht. Aber das liefern andere große Dirigenten und Orchester auch. Nelsons hat eine genaue Vorstellung von der Konstruktion und zeigt die auch durch das Orchester mit Kraft, Dramatik und Dringlichkeit. Nur die Tiefe haben wir schon stärker gespürt bei anderen.
Wenn auch Pressestimmen zu der Tournee mit diesem Programm u. a. nach Amsterdam und Hamburg gerade bei Tchaikovsky weitaus positiver klingen, so bleibt der Eindruck, dass diese Einspielung nicht ganz dieses Niveau erreicht.
Ansonsten ist die technische Aufbereitung mit konventioneller Bildführung tadellos. Die beiden gezeigten Symphonien gehören laut Beiheft zum Tafelsilber des Orchesters, das nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wird. Ein solcher Anlass war das Eintreffen Nelsons sicherlich. Aber, salopp formuliert, das Tafelsilber muss auch benutzt und nicht nur geputzt werden.