Herr Mody, bevor wir zum eigentlichen Thema kommen, möchte ich einige Fragen zu Ihrer Biografie stellen. Sie wurden in Mumbai geboren, begannen schon im Alter von vier Jahren Ihre Ausbildung in Indien und nahmen schon in jungen Jahren an Wettbewerben teil. War einer dieser Wettbewerbe eigentlich auch der ausschlaggebende Anlass für Ihr Stipendiat am Moskauer Tchaikovsky-Konservatorium?
Nein, überhaupt nicht. Der Anlass war eigentlich, dass ich ursprünglich an der Juilliard School oder an der Curtis School in den USA studieren wollte, dies jedoch zu teuer für mich war. Ich wusste damals schon, dass das Tchaikovsky-Konservatorium höchstes Niveau bot, oder bietet, und dass dort die Möglichkeit bestand, als Stipendiat angenommen zu werden, und so habe mich dort beworben. Nach einer Aufnahmeprüfung wurde ich aufgenommen. Die Aufnahme war eines der erschütterndsten pianistischen Erlebnisse in meinem Leben. Ich war sehr unbefangen und trotz sehr guter Vorbereitung hatte ich diese Art der Prüfung nicht erwartet. Im Vorspiel-Raum saßen 15 weltberühmte Pianisten, die ich alle von Schallplatten kannte, einschließlich des berühmten Klavierpädagogen Lev Naumov. Einer der Prüfer schaute mir während meines ganzen Vortrags frontal in die Augen. Ich spielte wie in Trance, war mir sicher, dass ich nicht bestanden hätte und war dann sehr überrascht über die Zusage.
Ihre Ausbildung muss in eine Zeit gefallen sein, in der in Russland der politische Umbruch noch nachgewirkt hat. Was sind Ihre Erinnerungen an das Moskau Ihrer Ausbildungszeit? Wie haben Sie dort gelebt und wie war die Stimmung in der Stadt?
Damals herrschte eine Stimmung von großer Hoffnung und Offenheit vor, bedingt durch die politische Führung von Michail Gorbatschow. Glücklicherweise bin ich nicht in der düsteren Periode des Kommunismus nach Moskau gekommen, und daher fand ich meine Zeit in der Stadt sehr aufregend. Man spürte die Aufbruchsstimmung. Ich fand es sehr schade, dass ich während des Putsches und des Machtwechsels nicht in Moskau, sondern im Urlaub in Indien war. Sonst hätte ich bei der Demonstration auf dem roten Platz teilgenommen.
Ich habe mich oft gefragt, warum Sie nicht auch am renommierten Tchaikovsky-Wettbewerb teilgenommen haben, sicher hätten Sie sehr gute Chancen gehabt. Gab es dazu keine Gelegenheit oder haben Sie sich bewusst gegen eine Teilnahme entschieden?
Während meiner Studienzeit in Moskau standen Wettbewerbe nicht im Vordergrund. Meine Lehrerin setzte den Akzent auch mehr auf eine tiefgründige und musikalische Erziehung. Außerdem haben mich die musikalischen Kompromisse, die generell bei Wettbewerben notwendig sind, nicht angesprochen.
Heute gelten Sie als einer der führenden Interpreten weltweit vor allem für die Musik Alexander Scriabins. Was begeistert Sie an seiner Musik, wie kamen Sie als Musiker zu Scriabin?
Ganz klar kam ich zur Musik Scriabins durch meine Lehrerin in Moskau, Frau Prof. Margarita Fyodorova, die damals eine der renommiertesten Scriabin-Interpretinnen in der Welt war. Die erste Sache, die mich an Scriabin begeistert hat, ist die unglaubliche musikalische Entwicklung von romantischer, chopinesker Musik zu einem ganz experimentellen Klangbild, und das in so kurzer Zeit. Was mich auch fasziniert, ist die Aktualität seiner Musik, sowohl in seiner Zeit als auch heute. Außerdem hat er ein enormes Repertoire fast ausschließlich für Klavier hinterlassen. Er war in dieser Hinsicht sozusagen der russische Chopin. Später, in seiner atonalen Musik, ist er ein unglaublicher Klangmagier. Die Kombinationen seines Notensystems, vor allen Dingen des Prometheus-Akkordes, sind einmalig. Was ich unglaublich finde, was man bei keinem anderen Komponisten so zu sehen bekommt, ist das Notenbild. Es ist sehr exakt komponiert, folgt man jedoch nur den Noten, wird die Musik nicht lebendig. Es erfordert eine unheimlich tiefsinnige Arbeit, seine Musik in einer frischen und lebendigen Art darzustellen. Die Ästhetik des atonalen Scriabins ist außerdem tief mit der indischen Philosophie und den Gedanken der östlichen Welt verbunden.
Ich habe den Eindruck, dass man in Deutschland Scriabins Musik einerseits auf ihre spieltechnischen Hürden, andererseits auf den theosophischen Hintergrund des Komponisten reduziert und dadurch ihre wahre Größe nicht erkennt. Wie ist das in Russland? Welchen Stellenwert hat Scriabin da im Vergleich zu z.B. Tchaikovsky, Shostakovich, Prokofiev oder Rachmaninov?
Überall in der Welt gehört Scriabin zu den Komponisten, die einen magischen Effekt auf Menschen haben. Doch die wahre Größe dieser Musik kann nur empfunden werden, es ist ein hochsubjektives Gefühl. Daher sind diese Empfindungen und auch Fantasien in einer materiellen Gesellschaft sehr schwer aufzunehmen oder zu fühlen. Insbesondere das späte Werk Scriabins, welches mit hochesoterischen und ätherischen Gedanken einhergeht. Es ist weit entfernt von der Realität. Es ist sogar eine Transfiguration von menschlichen Gefühlen mit transzendentalen Klangeffekten und hochgradig geladener Spannung in der Musik. In der russischen musikalischen Welt erfährt Scriabin den gleichen hohen Stellenwert wie die Musik der von Ihnen genannten Komponisten, jedoch wird von der Bevölkerung überwiegend der romantische und weniger der atonale Scriabin bevorzugt.
Seit dem letzten Volume Ihrer Scriabin-Gesamteinspielung sind einige Jahre vergangen. War das bedingt durch Ihr zweites Standbein, die Kammermusik, im Duo mit Isabel Steinbach oder gab es auch andere Gründe, die Sie dazu veranlasst haben, eine längere Scriabin-Pause einzulegen?
Diese Pause war nicht gewollt oder geplant. Sie entstand durch diverse schwierige Umstände und auch durch eine ausgedehnte Konzerttätigkeit, was zusammen dazu geführt hat, dass Vol. 6 (Pizzicato Rezension) etwas später fertig eingespielt war. Und ich freue mich sehr, dass das Album nun veröffentlicht wird und dass die Reihe weitergeht.
In der Coronakrise hatten Sie die Gelegenheit, beim Streamingfestival ‘WeLive’ einen aufwendig gedrehten, 45-minütigen Konzertfilm aufzunehmen, gefilmt mit 10 Kameras, umwerfenden Lichteffekten und mit perfektem Sound. Wie kam es dazu? Immerhin sind Sie der einzige klassische Musiker bei dem Festival gewesen unter ansonsten lauter Popmusik-Acts?
Ich wurde eingeladen, als klassischer Pianist an diesem wunderbaren Festival teilzunehmen, da ich mit Scriabin einen passenden Komponisten vertrete, der selbst sehr offen für Neuerungen und Experimente in der Musik war. Eigentlich war es auch eine Idee von Scriabin selbst, Verbindungen von Musik und Farben einzugehen (Prometheus), und da Scriabin Synästhetiker war, passen die Lichteffekte absolut zu seiner Musik.
Wie haben Sie die Coronakrise bislang wahrgenommen? Ich nehme an, dass auch Sie von den Entwicklungen betroffen gewesen sind. Ist eine Erholung der Lage im Konzertbetrieb absehbar oder denken Sie, dass es im bevorstehenden Winter noch einmal zu einer Verschlechterung der Lage kommen wird?
Als Musiker ist es natürlich eine sehr schwere Zeit, nicht nur durch fehlende Konzertauftritte. sondern auch durch die entstandene Atmosphäre. Die wenigen Konzerte, die ich momentan spielen kann, sind wie eine Befreiung von dem lähmenden Gefühl, welches die Situation und dadurch die Gesellschaft wiedergibt. Ich bin ein Optimist und denke, dass uns jeder Tiefschlag eine Chance gibt, uns wieder neu zu entwickeln und neue Gedanken entstehen zu lassen. Das ganze Leben ist ein Zyklus und dies ist im jetzigen Zyklus ein Tiefpunkt. Wir müssen nur Geduld haben.
Mit Volume 6 Ihrer Scriabin-Reihe nähern Sie sich langsam aber sicher dem Abschluss Ihrer Gesamteinspielung. Haben Sie schon Pläne für das nächste Großprojekt und falls ja, können Sie uns schon etwas darüber verraten?
Pläne sind dazu da, zerstört zu werden. Daher würde ich es bevorzugen, mit meinem nächsten Projekt zu überraschen, statt es vorher anzukündigen. Aber ich kann sagen, dass die Überraschung groß wird.
Volume 6 der Scriabin-Gesamteinspielung enthält – abgesehen von der sechsten Klaviersonate – eher unbekanntere Werke Scriabins. Welche der vertretenen Kompositionen sind aus Ihrer Sicht musikalisch besonders reizvoll und aus welchen Gründen?
Für mich persönlich hat die sechste Sonate eine unglaubliche Tiefe und ist eine kompositorische Meisterleistung, obwohl Scriabin eine sehr große Angst vor der Wirkung dieser Sonate hatte und sie ungewöhnlicherweise nie in Konzerten gespielt hat. Er wusste, die Energie dieses Werkes einzuschätzen. Die Energie dieser Sonate ist wie ein schwarzes Loch im Universum. Unwiderstehliche magische Kräfte verbergen sich in diesem Werk.
Ich persönlich war überrascht über die schiere Schönheit mancher Kompositionen auf dem Album, die Scriabin mal ganz anders zeigen, als man es gewohnt ist, nämlich als einen geradezu lyrischen, schwelgerischen Komponisten. Haben Sie das Repertoire auf diesem Album auch unter diesen Gesichtspunkten zusammengestellt, dass es vom Stil her passend zueinander ist?
Es stimmt was Sie sagen, einige Stücke haben diese lyrische und schwelgerische Art, doch es gibt sehr viele Kontraste und sehr viele verschiedene Genres mit unterschiedlichsten Klangbildern, Gedanken und musikalischer Ästhetik auf dieser CD. Daher entsteht eine sehr große Spannung von tiefsinnigen, transzendentalen Emotionen. Mein Konzept zur Entstehung einer Scriabin-CD ist meistens wie ein Konzert konzipiert. Ich bevorzuge es, nicht in Linien zu denken, sondern in Kontrasten und in Abwechslungen. Daher werden Sie gemerkt haben, dass nach dem tänzerischen Teil mit der Polonaise und den frühen Mazurken, die Präludien mit lyrischen, schwelgerischen Darstellungen folgen und dann in die atonalen Präludien und in die sechste Sonate übergehen. Dann kommt ein Abschnitt mit wieder Mazurken, romantischen Impromptus usw.
Zum Abschluss: Was erwarten Sie von den kommenden sechs Monaten? Wie wird es aus Ihrer Sicht mit der Musik in Zeiten der Coronakrise weitergehen?
Ich bin kein Hellseher. Daher werde ich keine Prognose geben können wie es weitergeht. Aber ich habe eine Empfehlung: Wir können uns die Situation erträglicher machen, wenn wir uns gegenseitig Mut machen und Aufmerksamkeit schenken statt Angst und Anschuldigungen zu verbreiten.