Vanessa Benelli Mosell, haben vor kurzem das 2. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninov aufgenommen, das ohne Zweifel zu den beliebtesten und meistgespielten Konzerten der Klavierliteratur gehört.
Ja, dieses Konzert ist ein wahres Meisterwerk, es ist eines dieser Stücke, das überall auf der Welt Publikum und Pianisten gleichermaßen begeistert und dessen Beliebtheit seit seiner Entstehung auch nie abgenommen hat. Auf der einen Seite bietet es grandiose, mitreißende Musik, auf der anderen Seite ist es oft sehr intimistisch angelegt.Und Rachmaninov bringt das Kunststück fertig, beides auf eine sehr glaubwürdige und musikalisch stimmige Weise miteinander zu verbinden. Einige Stellen sind für mich quasi psychoanalytische Wege zu Rachmaninovs Empfinden, denn sie geben so viel Persönliches und Tiefes von ihm preis.
Wenn Sie jetzt dieses Konzert mit den drei anderen vergleichen, wo liegen für sie die großen Unterschiede?
Ich denke, die Umstände, unter denen sie komponiert wurden, sind sehr unterschiedlich. Das 1. Klavierkonzert komponierte Rachmaninov als Teenager und Student am Moskauer Konservatorium. Das Dritte entstand in einer Zeit, als Rachmaninov sich auf dem Zenit seines Könnens als Komponist befand und das Vierte am Ende seiner Karriere. Bevor Rachmaninov sein 2. Konzert anging, hatte er wegen einer schweren Depression drei Jahre lang nichts komponiert und sich aufs Klavierspiel und Unterrichten beschränkt. Es ist dem Psychoanalysten Nikolai Dahl zu verdanken, dem übrigens auch das Werk gewidmet ist, dass Rachmaninov wieder Vertrauen zu sich selbst fand und auch die Kraft und den Mut, seine neuen Ideen, darunter das bekannte Anfangsthema aus diesem Konzert, umzusetzen. Allerdings ist Rachmaninov bei seinem 2. Klavierkonzert weder harmonisch noch formal innovativ, was ihm zeitlebens immer wieder vorgeworfen wurde. Er war ein sehr sensibler Künstler und litt, besonders nach seiner Depression, sehr stark unter diesen Kritiken. Aber ich denke, es sind weder die formalen noch die harmonischen Aspekte, die die Menschen in erster Linie berühren. Denn gerade in diesem 2. Klavierkonzert öffnet sich Rachmaninov und man kann als Hörer hautnah miterleben, wie er sich nach und nach von seiner Depression befreit und sich dem Leben wieder zuwendet. Und es ist auch das, was ich als Interpretin beim Spielen dieses Werkes sehr intensiv erlebe. Und auch weitergeben will. Dieses Werk ist ein sehr wichtiges Werk und zeugt von einem entscheidenden Wendepunkt im Leben des Menschen und Komponisten Rachmaninov.
Rachmaninov war ja an sich ein sehr rationaler Pianist mit einem klaren, architektonischen Spiel. Seine Werke werden in den verschiedenen Interpretationen aber sehr oft überladen und meines Erachtens nach auch zu kitschig gespielt.
Ja, Rachmaninov war ein sehr rational vorgehender Interpret, sowohl bei seinen Werken wie auch bei denen anderer Komponisten. Seine eigenen Aufnahmen seiner Konzerte zeigen einen sehr klaren, expressiven, aber nie zu gefühlsbetonten Interpreten. Das gilt auch für den Komponisten Rachmaninov, der fälschlicherweise oft als kalt beschrieben wurde. Ich selbst fühle seine Musik sehr ähnlich und versuche natürlich, dies in meinem Spiel auszudrücken. Es ist meine Sichtweise, doch es gibt glücklicherweise auch noch andere. Ich denke, jede gute Musik eröffnet den Interpreten viele Möglichkeiten, sich ihrem Kern zu nähern. Rachmaninovs Musik ist in meinen Augen so gut komponiert und drückt so präzise all das aus, was er sagen will, dass man als Interpret einfach darauf vertrauen soll. Ich selber lehne diese zuckersüßen, wie Sie sagen, kitschigen und oft schizophrenen Interpretationen seiner Musik ab und interessiere mich vielmehr dafür, wie ich all seine wunderbaren Ideen gefühlsecht in eine ausgewogene Struktur und in ein musikalisches Gleichgewicht bringen kann.
Was ist denn das Wesentliche, was die Pianisten immer wieder an Rachmaninov fasziniert?
Ich glaube, es ist der unwahrscheinliche Reichtum seiner Musik. Bei Rachmaninov hat alles seine Bedeutung, nie hat er ins Leere komponiert oder Verlegenheitslösungen gesucht. Für mich persönlich ist seine Musik zudem stark an meine Lehrjahre am Moskauer Konservatorium gebunden und besitzt somit auch ein stark nostalgisches Gefühl. Die Russen haben diese Musik im Blut, weil sie sehr stark an ihre Kultur gebunden ist. Nichtrussische Musiker müssen sich jedes Detail erarbeiten und kommen, wie ich, dann aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Ich denke, ein nichtrussischer Pianist kommt eher über die architektonische Schiene, also über den Aufbau, die Struktur und entdeckt dann erst die daran gebundene Emotionalität. Die russischen Pianisten erkennen diese Gefühle instinktiv und haben somit einen total anderen Zugang. Voraussetzung für uns nichtrussischen Musiker ist allerdings, dass wir eine sehr tiefe Verbundenheit mit der russischen Kultur und ihrer Musik spüren. Sonst ist es schwierig, einen überzeugenden Rachmaninov zu spielen. Auch die Kompositionen, die in den USA entstanden sind, sind immer noch hundertprozentig russische Werke.
Und was begeistert das Publikum schon seit Generationen an seiner Musik?
Ich denke, es ist Rachmaninovs musikalische Überzeugungskraft, den Hörer in eine andere Welt, eine andere musikalische Kultur zu entführen, die so heute nicht mehr existieren. Das hat sehr viel mit einem Gefühl der Nostalgie zu tun, aber auch einfach mit der Schönheit seiner Musik, die uns als Hörer immer wieder berührt.
Das zweite Werk Ihrer CD sind die Corelli-Variationen. Es war Rachmaninovs letztes großes Klavierwerk, hatte aber nie einen durchschlagenden Erfolg. Ich persönlich finde, dass die Corelli-Variationen ein fantastisches Stück sind, aber sieht man sich den Aufnahmekatalog an, so machen außer Ashkenazy und Lugansky scheinbar alle großen Pianisten einen Bogen darum.
Vielleicht lag es daran, dass Rachmaninov selbst in seinen späten Jahren das Stück nicht komplett, sondern höchstens auszugsweise spielte, weil es technisch zu kompliziert war und er in diesem Alter nicht mehr die erforderlichen Fähigkeiten besaß. Infolgedessen machten viele einen Bogen darum, weil sie nicht richtig wussten, wie es zu spielen sei. Als Pianist hat man da schon eine große Verantwortung dem Werk und dem Komponisten gegenüber. Gerade bei einem solchen Werk, das kaum auf CD existiert. Wir müssen es ja dann auch so spielen, dass das Publikum es schätzt und mag. Aber Rachmaninov macht es uns mit den Corelli-Variationen doch eigentlich einfach, denn die Musik ist wunderbar komponiert und dürfte jedem guten Pianisten, der sich dafür interessiert, keine Schwierigkeiten bereiten.
Wenn ich diese Variationen höre, fühle ich mich unweigerlich an Jazz-Pianisten wie Cecil Taylor, Keith Jarrett oder Michel Petrucciani erinnert, die auch große Improvisationskünstler waren resp. sind. Rachmaninov komponierte die Corelli-Variationen 1931, ein Jahr nachdem er aus den USA zurückgekehrt war. Weiß man etwas über seine Beziehung zur Jazz-Musik?
Ich glaube, es ist vor allem der rhapsodische Stil, den Rachmaninov in den USA für sich entdeckte und der besonders in seinem letzten Werk für Klavier, der ‘Rhapsodie über ein Thema von Paganini’ für Klavier und Orchester deutlich wird. Und auch hier benutzt Rachmaninov Thema und Variation als musikalisches Mittel, so wie in den Corelli-Variationen, die als ursprüngliche Quelle für Form und harmonische Entwicklung dieses Kompositionsstils angesehen werden.
Sie waren eine Schülerin von Karlheinz Stockhausen. In wieweit haben seien Sicht der Musik und der Interpretation Ihr Klavierspiel klassischer Werke beeinflusst?
Die Begegnung mit Stockhausen war ein wichtiger musikalischer Wendepunkt in meinem künstlerischen Leben, sowohl in meiner Art, die Musik zu lesen wie auch, sie sie zu spielen und zu interpretieren. Ich habe seine Art und Weise, die Musik zu begreifen so verinnerlicht, dass ich heute nicht sagen kann, was von ihm und was von mir stammt. Auch die Beschäftigung mit seiner eigenen Musik hat mir Türen geöffnet und mir ganz neue Wege gezeigt, Musik zu erfahren und weiterzugeben.
Was genau meinen Sie damit?
Seine Musik hat immer wieder meine Neugierde herausgefordert und mich dazu gebracht mich wirklich intensiv mit dem zu beschäftigen, was ich gerade spiele. Im Laufe der Zeit ist mir seine Musik auch ins Blut übergegangen, so dass ich für mich keinen Unterschied mehr mache, ob ich jetzt zeitgenössische Musik oder klassisches Repertoire spiele. Und in meinen Programmen spiele ich oft ein Stockhausen-Stück als Kontrast zum den traditionellen Stücken, was übrigens sehr gut beim Publikum ankommt.
Und wie ist denn Ihr Verhältnis generell zur zeitgenössischen Musik?
Lassen Sie mich es so formulieren: Vladimir Horowitz war der erste junge Pianist von Rang, der in seiner Zeit an die Musik des ebenfalls noch relativ jungen Rachmaninov glaubte. Schon als Student des Konservatoriums kannte Horowitz alle Rachmaninov-Stücke und wählte sogar dessen 3. Klavierkonzert für sein Abschlussexamen. Danach ging Horowitz nach Amerika, um sein Idol zu treffen. Er spielte ihm vor, und Rachmaninov war von seinem Können begeistert. Und so begann eines der fruchtbarsten Zusammenarbeiten der jüngeren Musikgeschichte zwischen Komponist und Interpret. Ich erzähle das, weil es an sich zeigt, wie wir Interpreten uns verhalten sollten. Wir haben die Aufgabe und Verpflichtung, die Musik unserer Komponisten von heute zu spielen. Natürlich funktioniert das nicht bei jedem Komponisten, aber ich denke, jeder ausführende Interpret findet für sich zeitgenössische Komponisten, zu deren Musik er einen Zugang hat. Für mich selbst ist die Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik enorm wichtig, weil sie meinen persönlichen Geschmack und somit meine Sichtweise regelmäßig verändert und ich dabei immer wieder etwas Neues lerne. Auch über mich selbst. Und deshalb spiele ich in meinen Konzerten sehr gerne zeitgenössische Werke, denn es ist wichtig auch das Publikum von ihrem Wert und ihrer Wichtigkeit zu überzeugen. In diesem Sinne freue ich mich auf die irische Premiere von George Benjamins Klavierkonzert in der ‘Dublin National Hall’ in diesem September.
Rezension der Rachmaninov-CD.