Interview von Stefan Pieper mit der Violinistin und Komponistin über ihr Album Saiga-Antilope, kulturelle Verschmelzung und die Zukunft der Musik.

Viktoria Elisabeth Kaunzner
(c) Ilya Shirshov

Viktoria Elisabeth Kaunzner, mit Ihrem neuen Album sprengen Sie musikalische Grenzen. Es ist ein Album, das östliche und westliche Traditionen verschmilzt und klassische Konzertrituale hinterfragt. Ihr 30-köpfiges multinationales Ensemble UKOREVV wird dabei zum Labor für eine neue, grenzüberschreitende Musiksprache. Sie suchen offenbar auch jenseits der Musik nach Inspiration. Gerade waren Sie intensiv auf der Berlinale unterwegs?
Ja, ich habe die Gunst der Stunde beim Schopf gepackt und war in sieben Filmen in vier Tagen. Das Niveau hat mich überrascht – Filme aus Korea, Taiwan, Kanada und eine deutsch-französische Produktion. Besonders beeindruckt hat mich ein Film über ukrainische Schulkinder und ein Portrait über Meredith Monk. Natürlich achte ich auch auf die Filmmusik, etwa einen Soundtrack mit ostasiatischer Violine, die den emotionalen Höhepunkt des Films weiterführte. Ich nehme die Welt sehr intensiv wahr, vielleicht sogar synästhetisch. Wenn ich ein Stück übe, schreibe ich Geschichten dazu, analysiere es, stelle mir sogar vor, welche Duft-Ebenen vorkommen könnten. Diese vielschichtige Herangehensweise prägt sowohl meine Interpretation als auch meine Kompositionen.

Ihr neues Album Saiga Antilope versammelt Werke von Komponistinnen wie Violeta Dinescu, Elena Kats-Chernin und Claudia Montero und ihre eigenen Werke wie die Saiga Antilope. Warum ist Ihnen die Förderung weiblicher Komponistinnen ein besonderes Anliegen?
Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber es ist immer noch ein Statement, wenn man Komponistinnen in den Mittelpunkt stellt. Diese Idee hatte ich schon vor etwa 15 Jahren. Ich bin meiner musikalischen DNA gefolgt und habe Werke ausgewählt, denen ich mich verbunden fühle. Violeta Dinescu kenne ich seit fast 20 Jahren – als sie mir 2019 ihr Violinkonzert schickte, war das ein enormes Geschenk. Elena Kats-Chernin verbindet in Times of Rain and Sun minimalistische Strukturen mit östlichen Einflüssen zu etwas ganz Eigenem. Und Claudia Montero, diese leider früh verstorbene, vierfache Latin-Grammy-Preisträgerin, hat mit ihrem Violinkonzert eine wunderbare Brücke zwischen Tango Nuevo und klassischer Form geschaffen. Und ich denke, es ist das erste Album überhaupt, auf dem zwei Violinkonzerte von zwei Komponistinnen zu hören sind.

Sie haben sieben Jahre in Korea verbracht. Wie hat diese Erfahrung Ihre musikalische Identität geprägt?
Als ich 2011 nach Südkorea ging, wollte ich wirklich in diese Kultur eintauchen. Ich erinnere mich an mein erstes Konzert mit traditioneller koreanischer Musik im Seoul Arts Center. Eine Dame im traditionellen Hanbok spielte die koreanische Violine mit zwei Seidensaiten. Nach zehn Minuten war ich völlig gefangen in dieser Atmosphäre und vor allem von dieser Klangwelt total überwältigt, so sehr, dass es mir fast schon zu viel wurde. Meine Agentin erklärte mir, dass die Musikerin über ‘eine Augenbraue’ spielte – da wurde mir klar: Ich bin im Land der Minimalisten, wo aus jedem Detail eine Symphonie geformt wird. Die koreanische Musik ist unglaublich facettenreich in ihren Klangfarben – von näselnd über krächzend bis unglaublich geschmeidig. Die Instrumente mit ihren Seidensaiten und Rosenholzstegen ermöglichen Klangwelten, die wir in Europa nicht kennen. Bei einem Ballett-Besuch erlebte ich dann, wie ein westliches Orchester mit koreanischen Instrumenten kombiniert wurde – diese Verschmelzung hat mich tief beeindruckt und meine eigene musikalische Sprache nachhaltig erweitert.

Ihre Kompositionen wollen neue Bewusstseinsebenen eröffnen. Was steckt hinter dem Titelstück für Ihr neues Album?
Bei der Saiga-Antilope, diesem vom Aussterben bedrohten Steppentier, wird die Musik zum Medium einer ökologischen Botschaft. Das Stück ist komplex und vielschichtig angelegt und spannt einen Bogen, der zum Ende hin fast auf koreanischen K-Pop hinaus läuft, so dass man förmlich dazu tanzen kann. Bei unseren Konzerten haben wir auch einen Dokumentarfilm über die Saiga-Antilope integriert, was besonders dem jüngeren Publikum sehr gefallen hat.

Was für ein Anliegen verbirgt sich dahinter?
Dieser Ansatz fühlt sich für mich richtig an, weil er das Körperliche betont und gleichzeitig junges Publikum erreicht. Die musikalische Komplexität wird schrittweise zugänglicher, ohne die Grundidee zu verwässern. Faszinierend war, wie unterschiedlich das Publikum in verschiedenen deutschen Städten reagierte – jeder Aufführungsort entwickelte seine eigene Dynamik.

In Ihren Kompositionen verbinden Sie östliche und westliche Elemente. Was für eine Bereicherung sehen Sie darin und welche Herausforderungen gibt es?
Das Bedürfnis nach Musik ist in Ostasien so stark, weil es dort ein tiefes Verständnis für die Kraft der Töne gibt. Die Chinesen haben schon vor 5000 Jahren die Wirkung verschiedener Tonleitern und Intervalle erforscht. Sie wussten, dass bestimmte Harmonien bestimmte Emotionen auslösen können und haben sich bewusst für pentatonische Strukturen entschieden. Es gab ein Bewusstsein dafür, dass Musik so viel Kraft haben kann, dass sie Gesellschaften verändert.
Die Herausforderung liegt darin, diese unterschiedlichen Klangästhetiken nicht einfach nebeneinanderzustellen, sondern wirklich zu verschmelzen. Das erfordert ein tiefes Verständnis beider Traditionen und die Bereitschaft, gewohnte Wege zu verlassen. Besonders spannend finde ich die mikrotonalen Möglichkeiten, die sich aus dieser Begegnung ergeben – da öffnen sich ganz neue Nuancen zwischen den Tönen unseres westlichen Systems, die in der koreanischen Musik selbstverständlich sind.

Viktoria Elisabeth Kaunzner
(c) Ilya Shirshov

Sie arbeiten mit einem multinationalen Ensemble. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit?
Mein Ensemble UKOREVV besteht aus 30 Musikern aus 15 Nationen. Mir ist wichtig, dass sie nicht nur Noten spielen, sondern wirklich herausgefordert werden und daran wachsen. In meinen Stücken baue ich daher oft Improvisationsabschnitte ein, wo jeder für kurze Zeit völlig frei spielen kann, was ihm einfällt. Für klassisch ausgebildete Virtuosen ist das zunächst oft eine Herausforderung – diese Freiheit zuzulassen und dem Moment zu vertrauen.
Bei Violeta Dinescus Konzert haben wir choreografische Elemente integriert. Ich nahm einen Seidenschal, drehte mich mit dem Bogen, und das Orchester stand auf, sang und bewegte sich wie in einem Fluxus-Stück. Diese Momente der gemeinsamen Kreativität schaffen eine besondere Verbindung im Ensemble. Die Freude, die wir auf der Bühne haben, überträgt sich direkt aufs Publikum.

Welche Vision haben Sie für die Zukunft des Konzertbetriebs?
Ich erlebe oft, dass in klassischen Konzerten der Ernst zu groß ist – ein Grund, warum die klassische Musikszene diese strenge Patina hat. Wenn Musiker auf der Bühne nicht lachen dürfen oder keinen Spaß haben dürfen, bleibt alles in einem steifen Rahmen. Diesen Rahmen wollen wir durchbrechen. Ich glaube, es ist essentiell, sich von alten Konventionen zu lösen. Bei unseren Konzerten hat das Publikum nach jedem Satz geklatscht. Zuerst war ich irritiert, dann dachte ich: Die Menschen freuen sich einfach – lasst sie klatschen!
Auch scheinbare Nebensächlichkeiten wie unsere Kleidung spielen eine wichtige Rolle. Wir hatten einen Dresscode mit Rot – der Farbe der Liebe und Leidenschaft – kombiniert mit Schwarz. Ich wechselte in jedem Konzertteil mein Kleid, was aufwendig ist, aber es wirkt und macht Spaß.  Es steckt viel konzeptionelle Arbeit hinter solchen Details. Die etablierten Konzertformate haben festgelegte Abläufe, während ich vieles selbst entscheiden kann. Das ermöglicht Experimente – und wenn etwas nicht funktioniert, hat man es wenigstens versucht und kann daraus lernen.

Wie sehen Sie die Rolle zeitgenössischer Musik im Konzertbetrieb?
Die entscheidende Frage ist: Wie schaffen es neue Werke, mehr als nur einmal aufgeführt zu werden? Oft werden Stücke uraufgeführt, weil eine Stiftung Geld gibt oder große Orchester kooperieren, und landen dann in der Schublade. Aber wie kann beim Publikum ein echtes Bedürfnis entstehen, ein neues Stück wiederhören zu wollen? Da sehe ich eine Verantwortung in der Kompositionsszene. Will ich, dass mein Stück nur einmal erklingt und dann verschwindet? Oder komponiere ich so, dass meine musikalische Aussage das Publikum berührt und ein Verlangen nach Wiederholung weckt? Eine meiner Kompositionslehrerinnen sagte mir mal: Es wird wieder in eine tonale Richtung gehen, weil alles andere schon ausprobiert wurde. Sogar Helmut Lachenmann hat gesagt, dass die Zeiten des Zitroneausdrückens vorbei sind, wo wir experimentiert haben, wie verschiedene Klänge funktionieren. Heute geht es um die Balance zwischen künstlerischem Anspruch und Zugänglichkeit, zwischen Tradition und Innovation.

Was bedeutet für Sie das gemeinsame Musikerleben?
Im Kern teilen wir ein Gefühl. Diese Begeisterung, diese Leidenschaft im Moment zu erleben und weiterzugeben – das ist essentiell. Genau dasselbe sagte kürzlich Angelina Jolie auf der Berlinale. Sie hat für den Film ‘Maria’ eine Gesangsausbildung absolviert und das habe sie auf eine ganz neue Bewusstseinsebene gehoben. Musikmachen verbindet uns eben auf einer tieferen Ebene. Gerade in unsicheren Zeiten kommen Menschen zusammen, finden in dieser gemeinsamen Schwingung Verbindung. Die Beziehung zwischen Musikern auf der Bühne und den Hörenden ist etwas ganz Kostbares, das bei jedem Konzert neu entsteht. Es geht darum, das gemeinsame Erlebnis zu spüren. In diesem Erleben liegt auch Hoffnung – vielleicht das wertvollste Element, das wir durch Musik vermitteln können.

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