Frau Petrychenko, schon seit Jahren setzen Sie sich sehr dafür ein, dass die Klaviermusik Ihres Heimatlands, der Ukraine stärker wahrgenommen wird. Nun hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, also ausgerechnet ein sehr trauriger Anlass, dazu geführt, dass die Musik ukrainischer Komponisten tatsächlich stärker wahrgenommen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass das bei Ihnen sehr zwiespältige Gefühle auslöst?
Das stimmt. Nach meinem Studium habe ich angefangen, ukrainische Musik in meine Konzerte zu integrieren. Schon damals habe ich festgestellt, dass diese Musik hier total unbekannt ist. Es ist schwer, Noten oder gute Aufnahmen zu finden. Das hat mich traurig gemacht und ich wollte es unbedingt ändern. Ich habe immer positive Reaktion erlebt, gute Rezensionen meiner CDs, warmer Empfang beim Publikum. Trotzdem war mir klar, dass Konzerte ausschließlich mit ukrainischer Musik ein Risiko darstellen, weil es wenig Interesse und Information gibt.
Seit dem 24. Februar 2022 spiele ich fast nur ukrainische Musik in meinen Konzerten. Das mache ich aus vielen Gründen. Es ist die Verbindung zum meinem Heimatland, eine Art Therapie für mich und meine Landsleute, weil diese Musik bei uns Assoziationen und bestimmte Emotionen weckt. Aber vor allem möchte ich die Ukraine, über die so viel heutzutage gesprochen wird, von einer anderen Seite zeigen. Nicht den Krieg, nicht die Politik, sondern unsere vielfältige und reiche Kultur. Dabei fühle ich mich stärker, weil es mir Kraft und Hoffnung gibt. Ich bin stolz, dass wir so viel zu bieten haben, glücklich, wenn ich sehe, wie viel Resonanz diese Musik auslöst und ich habe natürlich eine große Verantwortung, die ukrainische Musik gut zu präsentieren.
Inzwischen melden sich auch einige Skeptiker und Kritiker, die bezweifeln, dass es so etwas wie eine ukrainische Kunstmusik überhaupt gibt. Was entgegnen Sie diesem Vorwurf?
Ich würde empfehlen, mehr über ukrainische Geschichte zu lesen. Die Ukraine ist ein Land mit einer alten und interessanten Geschichte. Wir haben seit Jahrhunderten für unsere Freiheit, Sprache und Kultur gekämpft. Diese Abneigung ukrainischer Kultur gab es seitens Russlands immer. Das Waluev Zirkular (1863) und der Emser Erlass (1876) haben die ukrainische Sprache für wissenschaftliche Publikationen, Schulbücher, Verwendung im Theater verboten. Trotz solcher Grausamkeiten gegenüber unserer Sprache hat sich die ukrainische Kultur entwickelt und wir haben ein enorm reiches Erbe.
Wenn Sie neues Repertoire entdecken, wonach richten Sie sich da? Um mal einige Beispiele zu nennen: Komponisten wie Prokofiev oder zum Beispiel auch Alexander Mossolow wurden beide auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren, aber man kann sie beide schwerlich als ukrainische Komponisten bezeichnen.
Ich suche immer nach einer schönen Musik. Diese Musik wird für mich ukrainisch, wenn ihre Komponisten sich ukrainisch positioniert haben. Prokofiev wurde im Gebiet von Donezk geboren, hat aber in Russland studiert und gelebt (natürlich auch im Ausland), hat in russischer Sprache geschrieben und hat sich für ukrainische Kultur nicht interessiert. Deswegen käme ich nie auf die Idee, ihn als Ukrainer zu bezeichnen. Auch Mossolow, der in Kiew geboren ist, hat sein Leben in Russland verbracht. Ich finde keine ukrainische Thematik in seinen Werken, dafür aber ein Oratorium ‘Ehre der Stadt Moskau’, ‘Suite auf Themen patriotischer Soldaten’, ‘Turkmenische Nächte’. Auch hier würde ich nach Verbindungen zur Ukraine nicht suchen.
Ganz anders sind die Schicksale und Ansichten der Komponisten auf meinen Alben. Barvinsky, der ein Star in der Westukraine war, schrieb zwei Ukrainische Suiten eine Ukrainische Rhapsodie, eine Ukrainische Hochzeit; Lysenko, hat trotz Verbots der ukrainischen Sprache, zehn Opern über ukrainische Texte komponiert. Jedlichka liebte ukrainische Folklore und nutzte sie in seinen Werken; Revutskyj, der sowjetische Auftragskompositionen ablehnte, verwahrte sich gegen Vorschriften wie und was er komponieren sollte.
Auf Ihrem neuen Album ‘Mrii’ (Traum) stellen Sie Repertoire vor, das eine ganz sanfte, träumerische Seite der ukrainischen Klaviermusik vorstellt. Das verblüfft ein wenig. Im Angesicht eines Krieges ging es Musikern oft darum, sehr offensive musikalische Werke vorzustellen, die Kraft und Stärke ausstrahlen. Stattdessen haben Sie sich für Ihr neues Album für eine eher introvertierte und träumerische Klangwelt entscheiden. Wie kam es dazu?
Wir leben in einer schweren Zeit. Wir kämpfen, wir lesen andauernd Nachrichten, wir spenden, wir versuchen, mit Verwandten und Freunden in der Ukraine in Verbindung zu bleiben. All das ist richtig, aber es kostet unsere Seele eine enorme Kraft. Kein Ukrainer kann zurzeit sagen, er sei glücklich, weil sofort Gedanken über grausame Ereignisse in der Ukraine aufkommen. Aber wir sind Menschen, wir können nicht immer im aktiven Zustand sein, immer bereit zu kämpfen. Wir sind manchmal nur Menschen, manchmal auch schwach, müde. In solchen Momenten können unsere Träume uns wieder Kraft geben. Intime, zarte Musik gibt uns die Möglichkeit an glückliche Zeiten zu denken, vergangen oder zukünftig, und dabei die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Atmosphäre des Albums ist sehr gutmütig, als seien wir kurz zu Hause gewesen, in einer Zeit, als alles in Ordnung war. Eine Zuhörerin sagte nach meinem Konzert zu mir: Es ist, als hätte meine Mutter mir den Kopf gestreichelt und gesagt, dass alles wieder gut wird.
Für mich ist dieses Programm eine Reise durch die Träume der heutigen Ukrainer aber auch jene der Komponisten. Und in diesen Träumen finde ich die Stärke, die wir alle brauchen.
Könnte man sagen, dass Ihr neues Album solche Klaviermusik widerspiegelt, wie wir sie aus Mitteleuropa von Komponisten wie Schumann und Liszt als ‘Träumerei“’ kennen und welche dann von den französischen Impressionisten mit der ‘Reverie’ wieder aufgegriffen wurde? Einiges an dem Repertoire, das Sie präsentieren, scheint durchaus leicht impressionistische Anklänge zu haben.
Die Ukraine liegt ziemlich zentral. Alle Komponisten, die im Programm sind, haben eine großartige Ausbildung bekommen, einige haben im Ausland studiert. Sie haben versucht die neueste Musik zu bekommen, waren gut informiert darüber, was in der Welt passiert. Natürlich gab es Einflüsse, Moden, Vorbilder, eine Ästhetik der jeweiligen Epoche. Ich würde aber nicht versuchen, einem Klischee zu folgen, dass Lysenko wie Schumann schreibt oder Stepovyj wie Grieg. Jeder von diesen Komponisten hatte seinen eigenen Stil, seine eigene musikalische Sprache, in jedem finden Sie etwas Vertrautes, aber gleichzeitig auch etwas Neues und Ungewöhnliches.
Traum hat als Wort im Deutschen mindestens zwei Bedeutungen: Einerseits einen Zustand während man schläft, also das buchstäbliche Träumen. Andererseits kann Traum aber auch einen innigen Wunsch beschreiben, einen Zustand, den man sich sehr herbeisehnt, von dem man träumt. Steckt diese Doppelbedeutung auch im ukrainischen Mrii?
Nein, das ukrainische Mriya hat nur eine Bedeutung, die unsere Fantasien, Hoffnungen, Vorstellungen zeigt. Es geht nicht um Schlaf, sondern um den Wunsch, eine bessere Welt zu schaffen.
Bis jetzt haben Sie in Alben ausschließlich Repertoire für Klavier solo vorgelegt und ein Liederalbum. Spielen Sie auch mit Orchester? Und wenn ja, welche ukrainischen Konzerte würden Sie gern mal mit Orchester spielen?
Das stimmt. Aus organisatorischen Gründen habe ich bis jetzt hauptsächlich Solo-Alben produziert. Ich spiele aber auch sehr viel Kammermusik. Mit Orchester habe ich im September letzten Jahres das Klavierkonzert von Barvinsky gespielt. Es war eine Premiere in England.
Ich würde sehr gerne die Klavierkonzerte von Viktor Kosenko und Lewko Revutskyj spielen. Es gibt auch schon Anfragen.
Vor kurzem habe ich für mich die Musik von Mykola Dremlyuga entdeckt und würde gerne auch sein Klavierkonzert mit Orchester irgendwann aufführen. Leider gibt es keine Aufnahme von dem Stück. Es wäre großartig, das zu ändern.
Haben Sie noch Kontakt zu befreundeten Musikern in der Ukraine? Wie geht es denen in der aktuellen Kriegssituation? Gibt es überhaupt noch so etwas wie eine funktionierende Musikszene in Ihrem Heimatland?
Ich bewundere meine Kollegen dort. Sie versuchen pausenlos Konzerte zu geben. Meine Eltern wohnen in Saporizhja und sie gehen regelmäßig in die Philharmonie oder ins Theater. Meine Kollegen geben Konzerte in Kcharkiv, Odessa, Kyiw. In Lwiw gibt es jede Woche mehrere Konzerte, Festivals. Die Oper hat geöffnet und gibt Premieren. Ich selber gebe in der nächsten Zeit zwei Konzerte in der Ukraine (Saporizhja und Lwiw). Aber es besteht immer ein Risiko, dass das Konzert nicht stattfinden kann (Warnung, Raketenangriff, Stromausfall). Das ist Krieg – mit allem was dazu gehört.
Gibt es eigentlich ukrainische Komponisten, die zurzeit Werke schreiben oder vielleicht auch schon geschrieben haben, die die aktuelle Situation widerspiegeln? Krieg hat sich als tragisches Thema ja häufig auch in der Musik niedergeschlagen…
Ja, die Kultur spiegelt das Leben wider. Ich habe mit der Sängerin Elena Belkina das Requiem von Mariupol von I. Razumeiko aufgenommen. Der Komponist Jewgenii Stezjuk hat mich gefragt, ob ich seine ‘Musik während des Krieges’ aufführen möchte. Natürlich gibt es viele Werke, die derzeit entstehen. Die Emotionen sind sehr stark und das soll Musik auch zeigen.
Im Moment äußern einige Kommentatoren die Befürchtung, dass eine gewisse Müdigkeit bei der Unterstützung der Ukraine einsetzen könnte, je länger der Konflikt andauert. Spüren Sie das in Bezug auf die ukrainische Musik? Lässt das letztes Jahr aufgeflammte Interesse an ukrainischer Musik und Kultur in den Medien bereits wieder nach?
Zum Glück spüre ich es in der Musikwelt nicht. Vielleicht weil die Musik so genial ist, dass sie auch ohne diesen tragischen Anlass weiterleben und großes Interesse wecken kann. Ich freue mich sehr über Reaktionen des Publikums und versuche meine Zuhörer nicht zu enttäuschen: Die ukrainische Musik birgt sehr viele Schätze und es lohnt sich, sie zu entdecken.
Was sind Ihre Pläne und Wünsche für die nächste Zukunft?
Mein größter Wunsch ist, dass die Ukraine wieder in Frieden lebt und die Kultur sich dort wieder entwickeln kann. Dass alle Musikschulen, Theater, Konzertsäle, die durch den Krieg zerstört sind, wiederaufgebaut werden. Dass Kinder dort wieder lernen und Musikinstrumente spielen können.
Ich beschäftige mich zurzeit mit der Organisation eines Festivals der ukrainischen Musik in Köln. Aktuell suche ich noch finanzielle Unterstützung dafür und hoffe, dass ich im Herbst ein buntes Programm präsentieren kann.
Im Moment spiele ich viele Konzerte. Einige davon sind Benefizkonzerte. Schön wäre es tatsächlich, mehr mit Orchestern zu spielen.
Außerdem bereite ich ein neues Programm vor, das sich auf moderne ukrainische Musik konzentriert. Es gibt viele Projekte und ich bin froh, dass die ukrainische Musik so stark und vielfältig ist.