Wenn man seine Visitenkarte abgibt, dann ist das im übertragenen Sinn eine Handlung, mit der man sich ins hoffentlich beste Licht rückt sowie etwas über sich selbst, aber auch über den Aussteller der Visitenkarte zum Ausdruck bringt. Die Visitenkarte ist hier die ‘Kammermusik 1958’ über die Hymne ‘In lieblicher Bläue’ von Friedrich Hölderlin in der Interpretation des Scharoun Ensembles. Gleichzeitig ist diese Aufnahme ein Gedenken an den und eine Verbeugung vor dem Komponisten Hans Werner Henze. Das Ensemble hat rund dreißig Jahre mit Henze eng zusammen gearbeitet und seine Werke mit ihm erarbeitet.
Dabei haben sich dann durchaus befruchtende Gedanken und persönliche Freundschaften ergeben. So hat Henze gerade seine ‘Kammermusik 1958’ freier verstanden, als es die Notation nahelegt und damit die gesangliche, fast schon romantische Ader in der Musik betont.
In der Besetzung fügen sich zu den Instrumenten des Oktetts, die beispielsweise Schubert verwendete, noch die männliche Stimme und die ebenso solistisch eingesetzte Gitarre. Stilistisch ist die farbenreiche Komposition ein Gegenentwurf und damit auch eine eigene Positionierung zu den Entwicklungen jener Tage in Darmstadt. Die verschiedenen Klänge ergeben sich allein schon durch die unterschiedliche Besetzung der dreizehn Sätze und bieten dem Hörer trotz der Dauer einer Dreiviertelstunde ein abwechslungsreiches Klangbild.
Das zugrundeliegende Werk Hölderlins, das er wohl im Jahr seiner Umnachtung schrieb, gehorcht eigenen Regeln und verlässt sowohl lyrische als auch prosaische Formgebungen.
Ein Vierteljahrhundert später schuf Henze in der Steiermark die Mürztaler Musikwerkstätten, die man heute wohl als Sozialprojekt bezeichnen würde. Damit wollte er Menschen sowohl an die Neue Musik wie auch an ihre Wurzeln in der griechischen Tragödie heranführen. Aus einem dieser Projekte haben sich die ‘Neuen Volkslieder und Hirtengesänge’ als eigenständiges Werk entwickelt, für Fagott, Gitarre und Streichtrio. Das Blasinstrument ersetzt also die ursprüngliche Stimme.
Das Scharoun Ensemble setzt sich fast ausschließlich aus Mitgliedern der Berliner Philharmoniker zusammen. Eines ihrer Anliegen ist es, die Verbindung zwischen Tradition und Moderne herzustellen. Unzweifelhaft handelt es sich um eine der herausragenden Kammermusikvereinigungen, die mit ausgefeilten und einnehmenden Interpretation begeistern. Auch in dieser Aufnahme werden die intensiven Momente der oft stillen Musik sorgfältig herausgearbeitet und behalten doch ihre zarte Frische.
Für die Gitarrenstimme hat die Gemeinschaft den Würzburger Professor Jürgen Ruck eingeladen, der auch als Virtuose seines Instruments bekannt ist.
Der Vokalpart findet in Andrew Staples einen der führenden englischen Tenöre, der seine große Erfahrung mit Werken von Benjamin Britten einbringen kann, da Britten als Ideengeber und Widmungsträger Einfluss bei der Entstehung des Werkes hatte.
Die ‘Kammermusik’ wird von Daniel Harding am Dirigentenpult perfekt zusammen gehalten.