Vladimir Spivakov ist heute als Dirigent so gefeiert wie als Geiger. « Das Dirigieren hat mir die Möglichkeit gegeben, Musik anders zu hören », erklärt er. Alain Steffen hat sich mit dem Musiker unterhalten, der als Leiter des Musikfestivals von Colmar eine weitere künstlerische Tätigkeit verfolgt.
Herr Spivakov, Sie sind seit 1989 künstlerischer Leiter des ‘Festival International de Colmar’. Was unterscheidet Colmar von anderen Musikfestivals?
Ich weiß nicht, ob es da wirklich so große Unterschiede gibt. Zwei Punkte sind für mich aber sehr wichtig. Erstens die Qualität: Wir wollen den Gästen entspannte Künstler vorstellen, die kommen, um Musik zu machen und die nicht von einem strengen Tourneeplan abhängig sind. Das bringt nichts, unter diesem Druck leidet nur die künstlerische Leistung. Zweitens das Programm: Wir versuchen, das Festival jedes Jahr einem anderen Leitgedanken unterzuordnen; im Mittelpunkt aber soll jedes Mal ein Komponist, ein Land oder ein Künstler stehen. Nur in diesem Jahr, bei meinem 25. Festival, wird das eben aus diesem Grund nicht der Fall sein.
Sie scheinen kein Freund des Jet-Set zu sein!
Auf keinen Fall, ich jedenfalls kann und will nicht so arbeiten. Leider gibt es zu viele McDonalds in unserer Branche, und das ist nicht gut. Musik und Vorbereitungen brauchen ihre Zeit. Für mich ist es ungemein wichtig, dass ich mich über einen längeren Zeitraum mit einer Partitur beschäftige, ich brauche viel Zeit um zu denken, um den Komponisten und sein Werk zu verstehen. Wissen Sie, ein Konzert auf die Schnelle zu dirigieren, ist keine Kunst. Aber da bleibt man an der Oberfläche. Es ist nicht nur wichtig, die Botschaft des Werkes zu verstehen und zu übermitteln, es ist genauso wichtig an den Noten und Phrasierungen zu arbeiten, Feinheiten herauszuschälen, Akzente zu setzen. Wie die Musik überhaupt klingen soll, mit welchem Bogenstrich diese Phrase zu spielen ist, welche Finger man benutzt. Dies alles muss im Kopf geordnet sein wie frische Hemde, die aus der Reinigung kommen. Und erst dann soll man vor das Orchester treten und mit der konkreten Arbeit beginnen.
Aber die Realität ist ja oft anders. Da gibt es Termine, Gastauftritte mit wenigen Proben, Programme und Werke, die auf Abruf bereit sein müssen, das Diktat der Plattenfirmen. Kann man da noch von künstlerischer Freiheit sprechen?
Ich versuche, mich so wenig wie möglich diesen Situationen auszusetzen zu müssen. Für mich steht die künstlerische Aussage immer im Vordergrund. Aber Sie haben Recht, durch all diese Umstände verliert die Musik ungemein viel an Aussagekraft. Schauen Sie, früher da gab es Furtwängler, Walter, Klemperer… Ihre Schallplatten, ihre Interpretationen sprechen noch heute ihre eigene Sprache. Und heute? Alles Kopien, Wiederholungen, Oberflächlichkeit wo man hinhört.
Es ist ja so, dass klassische Musik heute für jeden und fast permanent zugänglich ist. Es gibt Konzerte in Hülle und Fülle, es gibt CDs, DVDs. Haben da die kleineren und mittleren Festivals längerfristig überhaupt noch eine Überlebenschance?
Ich glaube schon. Das Publikum, das sehen wir an den vielen ausverkauften Konzerten, ist da, und es ist selbst für Neues und auch für vielleicht bekannte Künstler offen. Damit aber ein Festival leben kann, braucht es Geld. Und solange es Institutionen und Menschen gibt, die Geld in die Kunst investieren, können wir weitermachen. Colmar wird zum Teil aus öffentlichen Geldern der Stadt wie auch über private Mäzene gesponsert. Es stimmt aber, dass allgemein ein Trend eingesetzt hat, Gelder auf Kosten der Musik und Kultur einzusparen. Das ist aber meiner Ansicht nach der falsche Weg, denn Kunst ist für den Menschen lebenswichtig, besonders in schwierigen Zeiten. Politiker arbeiten für ihre Amtszeit, Künstler dagegen für die Ewigkeit. Und so hat sich das Festival von Colmar zur Aufgabe gestellt, diese Komponisten und Musiker zu ehren, damit ihr Wirken nicht in Vergessenheit gerät. Ein japanisches Sprichwort sagt, dass die Menschen die abgefallenen Blätter eines Baumes einfach wegkehren und dabei schon vergessen haben, mit welcher Farbenpracht er sie noch vor Wochen erfreut hat. Wir wollen diesem Vergessen etwas entgegenwirken.
Sie sind Dirigent, Solist, Festivalleiter. Birgt diese Vielseitigkeit nicht auch Gefahren?
Für mich jedenfalls nicht, hoffe ich. Ich sehe darin eine große Chance. Sehen Sie, ich habe das Glück, Musik auf verschiedenen Niveaus machen zu können und bin daher auch nicht auf eine Tätigkeit eingeschränkt. Wenn ich keine Lust habe, zu dirigieren, dann konzentriere ich mich mehr auf meine Violine und trete als Solist auf. Wenn ich Lust habe, Kammermusik zu machen, dann spiele ich Quartette oder Trios. Ich finde diesen Wechsel sehr erfrischend und notwendig, um nicht permanent auf der gleichen Schiene weiterzulaufen.
Vielleicht sagen Sie abschließend noch ein paar Worte zu der ‘Vladimir Spivakov Foundation’?
Unsere Stiftung ist 1994, also direkt nach dem großen politischen Erdbeben in Russland entstanden. Wer ist von der Not am meisten betroffen? Alte Menschen und Kinder! Sie haben keine Verteidigungsmöglichkeiten, keine Lobby. Unser Grundprinzip beruht auf dem Humanismus, der Liebe für den Nächsten und dem Wunsch nach individueller Freiheit und Entfaltung. Ich habe selbst als Kind in diesen riesigen Gebäuden wohnen müssen, wo es auf einem Stockwerk 18 kleine Wohnungen gab und wo 18 Großfamilien sich eine Wohnung auf engstem Raum teilen mussten. Wir waren sehr arm und ich habe diese Armut am eigenen Leib erfahren. Aber ich habe Glück gehabt, während viele andere, ja sogar die meisten nie eine Chance bekommen. Solchen Leuten wollen wir helfen. Es gibt viele Menschen, besonders aus dem Ausland, die mir helfen und Gelder spenden. Und mit diesem Geld finanzieren wir ganz verschiedene Projekte. Das kann eine Operation eines Kindes sein, das kann aber auch die Finanzierung eines Studiums oder eines Meisterkurses sein, möglicherweise auch der Erwerb eines Instrumentes. Und wenn eine alte Frau einen Fernseher will, der für sie das einzige Fenster zur Welt ist, dann finanzieren wir auch das.