Das enge beklemmende Zimmer des Bühnenbildes erinnert an eine Gefängniszelle aus einem Monte Christo-Film. Da man früher schon auf Menschenrechte achtete, musste auch eine Zelle dem genügen. Dabei kam es nicht auf die Ausstattung wie feuchte Wände, Ratten als Mitbewohner oder auf die Fläche an. Eine hohe Zelle, also Volumen, mit unerreichbarem Fenster im Kellerverlies erfüllte auch die Maßstäbe.
In diesem Zimmer lebt Charlotte, eben wie in einem Gefängnis. Wie ihrer Mutter versprochen, hat sie Albert geheiratet und agiert als Ersatzmutter für die kleinen Geschwister. Im Kreise einer Spießerfamilie wird ausgelassen, fast grotesk Weihnachten gefeiert. In dieses Idyll dringt von außen Werther als schwarzer Mann ein. Damit wird gleich deutlich, dass Welten aufeinandertreffen, die nicht zusammenpassen. Charlotte lebt in und für ihren Haushalt. Die Schränke öffnen sich für alles, was man braucht und schlucken auch alles, was wegkann, inklusive der Gäste. Nur eben Werther lässt sich nicht verstauen. Da Charlotte ihr Leben nicht lassen kann oder will, kommt es dann zu dem bei Goethes Werk angelegten bitteren Ende.
Dass dieses deprimierende Geschehen trotzdem glückliche Gesichter im Publikum hinterlässt, liegt an den Zutaten dieser Inszenierung. Eigentlich sollte man alle Beteiligten als Ganzes für die gelungene Umsetzung unterschiedslos herausheben. Aber einige sind dann doch noch gesondert zu nennen.
Auf Seiten der Regie schafft Tatjana Gürbaca es, die Waage zu halten zwischen der Realität und Schein- oder Traumwelten. So etwa, wenn hinter den geöffneten Schranktüren der Schnee fällt oder der Sternenhimmel vorbeizieht, wobei man sich fragen kann, wessen Traum das ist. Die Balance gelingt ihr auch damit, die Themen anzuzeigen, aber nicht mit Bedeutung zu überfrachten, so dass dem Betrachter gedankliche Spielräume bleiben, sich eine eigene Sicht zu verschaffen.
Massenet hat dieses Liebesdrama meisterhaft instrumentiert. Sowohl Chor wie Orchester können von interessanten Partien profitieren. Cornelius Meister leitet vom Orchestergraben aus und arbeitet sowohl die Klangfarben wie die dynamischen Finessen sehr vielfältig und detailliert heraus. Mit einer stets flexiblen Rubato-Dramaturgie kann er ausgezeichnet Spannungen erzeugen. Da wirken nur wenige Klangwogen etwas übertrieben und einzelne Fortissimostellen etwas grob. Aber lobend sei erwähnt, dass er schnell wieder die leisen Töne herauskitzelt. So schaffen Meister und das Orchester Farben in ungewöhnlicher Vielfalt, wie etwa jene des Saxophons, die das Geschehen beleben.
Auch wenn Juan Diego Florez in der Partie des Werther und Anna Stéphany als Charlotte dank ihrer stimmlichen Strahlkraft keine Mühe haben, mit dem vollen romantischen Orchester zu konkurrieren, hätten sie es ohne die Spitzen leichter gehabt. So strahlkräftig Florez auch singt, in den Pianoregionen kann seine berückend schöne Tenorstimme wirklich punkten wie im nuancenreichen Gestalten von zerbrechlichen und schattierten Gesangslinien. Dieser Werther ist ins Verliebtsein verliebt und so ins eigene Raffinement. Und darin hat er auch einen Vorsprung vor Charlotte, die durch glasklare Linienführung, wenn auch gelegentlich mit viel Vibrato, beeindruckt und mit ihrem warmen Timbre den perfekten Kontrast zum Titelhelden schafft. Auch sie findet differenzierte Ausdrucksnuancen, aber die stimmliche Dramatik variiert weniger ausgeprägt.
Der Bariton Audun Iversen gefällt mit seinem klangvollen runden Timbre für den Albert und stimmlich bietet ihm diese Partie keine Probleme, wenn er auch keinen Ausbund an Klangfarbenvielfalt einbrachte. Die Sophie der quirligen Mélissa Petit sing hell und agil.