Heutzutage gibt es ein Gesellschaftsspiel, z. B. für Betriebsfeiern, ‘Panic Room’ genannt. Dabei lässt sich eine Gruppe freiwillig in eine Räumlichkeit einschließen und hat eine begrenzte Zeit, durch die Lösung von Rätseln den ‘Schlüssel’ zu finden, um den Raum wieder verlassen zu können. Notfalls kann ein Beobachter eingreifen.
1962 hat der spanische Filmemacher Luis Buñuel den Film ‘El ángel exterminador’ – zu Deutsch ‘Der Würgeengel’ gedreht, der den umgedrehten Fall beleuchtet. Es ist eine rätselhafte, surrealistische und vielfach interpretierte Parabel, die die Bourgeoise ins Visier nimmt. Eine zunächst aufgekratzte Festgesellschaft wird unvermutet vom Personal allein gelassen und ist nicht mehr fähig, das Haus zu verlassen, warum auch immer. Mehrere Tage bleiben die Gäste psychisch eingesperrt. Panik macht sich breit, ein alter Mann stirbt, ein junges Paar begeht Selbstmord, die Konventionen werden bis hin zur Anarchie durcheinander gewirbelt. Schafe wandern in den Salon. Ein auftretender Bär verbreitet Angst und Schrecken.
Die Erkundung einer zusammenbrechenden Gesellschaft ist für Adès eine natürliche Wahl. In der dreiaktigen Oper wird dieser Ablauf des Films weitgehend übernommen. Gemeinsam mit Tom Cairns, dem Regisseur, hat Adès das Libretto fast textgetreu nach dem Drehbuch eingerichtet.
Zwei große bewegliche Raumelemente prägen das Setting: eine goldglänzende Wand an der linken Seite und ein Torbogen auf der Drehbühne. Dieses Tor ist auch die unüberschreitbare Schwelle, die das Gehen im Zaum hält, aber nicht die Zivilisation. Dazu kommen viele schöne kleine theatralische Effekte, wie die schwebende Hand, das sprudelnde Wasser aus der Leitung und offenes Bühnenfeuer und natürlich die Schafe, wobei, Tiere auf der Bühne…
Es wird viel gesungen in dieser neuen Oper ‘The Exterminating Angel’ von Thomas Adès. Denn die gesamte Oper ist ein gesellschaftlicher Small Talk. Dabei gibt es genug sinnfreies Geplauder, solange die Stimmung noch gut ist. Und gibt umso mehr Verzweiflung und abstruse Gedanken, je länger die klaustrophobische Situation andauert.
Musikalisch wird in dieser Oper alles geboten. Ein fünfzehnköpfiges Solistensängerensemble, ein Chor und das Orchester, das mit der Ondes Martenot und anderen ausgefallenen Instrumenten angereichert ist, bewältigen die Aufgabe.
Adès komponiert effektvoll und er benutzt diverse Stile und Mittel: Dramatische Solopartien, Walzer, Trommelwirbel, ein Klaviersolo. Der Komponist nimmt sich die Instrumente und Töne, die er gerade situativ braucht. Gekonnt wendet er sein kompositorisches Talent geschickt an. Es ist, als ob die Musikgeschichte in zwei Stunden Revue passiert. Da kann, wer mag, Wagner und russische Komponisten hören, Bartók, Ravel und von der Renaissance bis Chanson, ebenso Flamenco und, und, und…
Die Musik ist somit einer der positiven Punkte. Letztlich aber geschieht diese Spezifizierung im Detail zu Lasten einer zwingenden Gesamtdramaturgie, Small Talk eben.
Der Regisseur überzeugt mit durchdachter Personenführung. Jedoch bleiben anders als im Film, der suggestiv sein Psychogramm Schritt für Schritt aufbaut, die ersten beiden Akte der Oper lange kommod. Es fehlen hier die nach und nach eingestreuten Irritationen auf der Bühne. Es ist ganz einfach, wenn etwa die Ondes Martenot, der Würgeengel, spielt, dann wird es unheimlich. Dennoch lässt sich das Werk nicht einfach als platt abstempeln. Es gibt schöne Momente, in denen raffinierte Klangfarben und Stimmungen ausgekostet werden.
Die Interpreten lassen diese Augenblicke leuchten: Das ‘Metropolitan Opera Orchestra’ und der Chor musizieren unter der Leitung des Komponisten präzise, ausdrucksstark und differenziert. Die große Solistenschar begeistert als hervorragendes Ensemble, das von Anfang bis Ende schwer gefordert ist. Aber es lässt nicht nach in der Bewältigung der Aufgaben und meistert sie grandios. Anstelle aller seien der Countertenor Iestyn Davies erwähnt, der eine Ode an Kaffeelöffel zelebriert; oder auch John Tomlinson als Doktor, der versucht, alles unter Kontrolle zu halten, was er schauspielerisch und stimmlich auch fabelhaft ausdrücken kann; und schließlich Audrey Luna als Leticia, die als teuflische Diva ihre koloraturreiche Stimme schillernd singt.