SWR Music bündelt in einer Fünferbox die Symphonien Nr. 3, 4, 6, 7 und 9 von Anton Bruckner, die Roger Norrington zwischen 2007 und 2010 in Stuttgart aufgenommen hat und die schon einzeln von Hänssler Classic veröffentlicht wurden. Die Interpretationen sind sehr unterschiedlich, wie die folgenden Rezensionen zeigen.
(Guy Wagner) – Die Richard Wagner gewidmete Dritte von Anton Bruckner ist zweifellos eine seiner problematischsten Schöpfungen. Ihre erste Fassung wurde im Dezember 1873 abgeschlossen. Allerdings wurde das Werk dreimal von den Wiener Philharmonikern abgelehnt und schon 1874 begann Bruckner daran herum zu ändern: In dieser Fassung wurde es nie zu Lebzeiten des Komponisten aufgeführt. Die zweite, radikale Überarbeitung erfolgte größtenteils 1876. Diese erschien 1877 im Druck und wurde auch aufgeführt – ziemlich erfolglos, so dass Bruckner, nachdem er die Achte bereits abgeschlossen hatte, die Dritte nochmals aufgriff, woran der Dirigent Franz Schalk einen wesentlichen Anteil hatte. Dieser bearbeitete das Finale sogar ohne Erlaubnis Bruckners neu; dennoch berücksichtigte er Schalks Version des Finales in seiner dritten Fassung von 1888-1889.
Natürlich lässt es sich Roger Norrington nicht nehmen, auf die wenig gespielte Erstfassung von 1873 mit ihren zahlreichen Zitaten aus Tannhäuser, Tristan, Meistersinger und Walküre zurückzugreifen, durch die das Werk erst seinen Beinamen ‘Wagner-Symphonie’ erhielt, ein Beiname, der wenig verständlich wäre, würde man nur die anderen Versionen kennen, da diese ohne die Zitate auskommen. Man sollte der Erstfassung auf jeden Fall eine starke Eigenpersönlichkeit zugestehen, denn in ihr ist erstmals der später zum Charakteristikum gewordene Kompositionsstil Bruckners voll ausgeprägt. Das gilt vor allem für die harten Kontraste zwischen riesigen Melodiebögen und volksmusikalischer Schlichtheit, sowie zwischen elegischen, fließenden Streicherstellen und sich auftürmenden Blechbläserverdichtungen.
Norrington hatte das Werk bereits vor zehn Jahren mit seinen London Classical Players eingespielt und für Furore durch seine der so genannten historischen Aufführungspraxis verpflichteten Spielweise gesorgt: hie helle Begeisterung, da scharfe Ablehnung. Diesmal, mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, werden die Meinungen nicht so hart aufeinander prallen. Man hat sich inzwischen an Norringtons Art der Annäherung an Werke der Klassik und Spätromantik, – von Mozart über Schubert zu Mahler – gewöhnt, bei der es manchmal zu überraschenden und überzeugenden Lösungen gekommen ist, oft aber auch zu Einspielungen, die eher als Masche gewertet werden müssen denn als Innovation. Bei dieser Bruckner-Einspielung ist das der Fall, auch wenn verschiedene Lösungen (z. B. die Aufstellung des Orchesters, die räumliche Klangwirkung und die Klangkontraste) beeindrucken können.
(Remy Franck) Roger Norrington dirigiert die Erstfassung von Bruckners Vierter Symphonie so schnell, dass man nur staunen kann. Er braucht immerhin 10 Minuten weniger als die zum Vergleich herangezogene Einspielung von Simone Young mit den Philharmonikern Hamburg bei Oehms Classics. Wo die amerikanische Dirigentin die Radikalität des modernen Bruckner mit forschem Musizieren unterstreicht, geht Norrington kontrastreicher vor, akzeleriert hier, bremst dort, wechselt von Verspieltheit zu Introspektion. Das mag über weite Strecken so leicht und schwungvoll und vielleicht weniger nach Bruckner klingen als man es sich gemeinhin vorstellt, aber es ist nicht weniger interessant. Young ist konsequenter in der Durchführung, für sie ist der große Atem wichtig, sie baut auf eine Rhetorik der großen, weiten Spannung, wo Norrington mehr die kleinen Inseln pflegt, an denen er im großen Bruckner-Fluss vorbeischwimmt und immer wieder in Stromschnellen gerät, die dann auch den erheblichen Zeitunterschied ausmachen. So wirkt Bruckners Vierte doch sehr bizarr, aber durchgehend vital und letztlich sehr ansprechend. Als Alternativaufnahme ist sie wertvoll und gehört in jede gute Bruckner-Sammlung.
(Alain Steffen) – Viele Dirigenten der historischen Aufführungspraxis finden nach und nach den Weg zu der postromantischen Musik. Nach Harnoncourt und Gardiner versuchte auch Roger Norrington sein Glück auf diesem Gebiert. Allerdings mit wenig Überzeugungskraft. Norringtons Aufnahme der 6. Symphonie von Bruckner kann eben so wenig begeistern wie seine Einspielungen der Symphonien 3 & 4. Dünn ist der Klang, zerbrechlich die Architektur. Es ist lobenswert, Bruckner so authentisch wie möglich aufführen zu wollen, aber diese radikale Schlankheitskur verträgt die Musik nicht gut. Alles wirkt zusammengebastelt und berechnet, einen natürlichen Fluss sucht man meistens vergebens, wenn auch im feierlichen Adagio sehr schöne Momente zu finden sind. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart spielt ordentlich, bleibt aber deutlich hinter seinem Potenzial zurück.
(Remy Franck) – Roger Norrington dirigiert eine interessante Interpretation der Siebten Symphonie Anton Bruckners. Nicht weil er die Streicher des Orchesters ohne Vibrato spielen lässt, sondern weil er Bruckners Musik erfrischend neu dimensioniert. Nicht das Ernsthafte, das Großartige, das Hymnische, das gewissermaßen Übermenschliche wird betont, sondern die Musik wird in direkte Relation zum Menschen Bruckner gebracht, zu seiner liebenswerten Naivität. So wird Bruckners Siebte menschlicher, Freude und Leid, Verspieltes wie Zärtliches, Aufrauschendes wie Lyrisches werden ehrlich und bewegend dargestellt. Um all das zu erreichen, benutzt Norrington streckenweise sehr schnelle Tempi, die sicher ganz ungewohnt klingen, die aber Teil dieses Konzepts sind und daher auch Sinn machen.
(Remy Franck) – Speziell ist sie schon, diese Neunte, aber gleichzeitig doch auch interessant. Grundsätzlich geht es Norrington wohl darum, das Weihe- und Würdevolle aus der Musik zu verbannen. Er erreicht das durch rhythmische Pointierung, durch ungewohnte Akzente und einen insgesamt etwas verspielten Ansatz, wobei er die Musik kräftig gegen den Strich bürstet und mit neuartigen Gewichtungen zum Teil drollige Klangwirkungen erzielt. Da wird zwar so mancher Brucknerianer stöhnen, aber es tut doch auch mal gut, diese Neunte in einer so neuen Phrasierung und Akzentuierung zu hören, zumal die recht schnellen Tempi nicht wirklich extrem sind.
Problematisch wird die Sache im Adagio, das Bruckner mit ‘Langsam, feierlich’ bezeichnet hat. Norrington nimmt sich dafür recht wenig Zeit, nur 18 Minuten und 40 Sekunden, also doch 6 Minuten weniger als Tintner, 7 Minuten weniger als Karajan, 11 Minuten weniger als Giulini, von Celibidache nicht zu reden. Vor allem aber ist es das Feierliche, das dem Satz hier völlig abgeht. Eher unwirsch klingt die Musik manchmal, regelrecht grantig, später dann irgendwie gelöst und geläutert. Schnell spielt Norrington die Musik dem Ende entgegen und plötzlich ist der Satz vorbei, ehe man es so richtig erwartet hatte. Und umso schmerzlicher ist dann das Fehlen des nicht existierenden Finalsatzes. Bei Norrington hat man deutlich den Eindruck, dass die Neunte Bruckner mit diesem Adagio nicht beendet ist.
SWR Music bundles in a five-disc box set Anton Bruckner’s Symphonies Nos. 3, 4, 6, 7 and 9, which Roger Norrington recorded in Stuttgart between 2007 and 2010 and which have already been released individually by Hänssler Classic. Interpretations vary widely, as the following reviews show.
(Guy Wagner) – Anton Bruckner’s Third, dedicated to Richard Wagner, is undoubtedly one of his most problematic creations. Its first version was completed in December 1873. However, the work was rejected three times by the Vienna Philharmonic and as early as 1874 Bruckner began to make changes to it. It was never performed in this version during the composer’s lifetime. The second, radical revision took place for the most part in 1876. It was printed in 1877 and was also performed – rather unsuccessfully, so that Bruckner, having already completed the Eighth, took up the Third once more, in which the conductor Franz Schalk played a major part. The latter even reworked the finale without Bruckner’s permission; nevertheless, he took Schalk’s version of the finale into account in his third version of 1888-1889.
Of course, Roger Norrington does not miss the opportunity to go back to the little played first version of 1873 with its numerous quotations from Tannhäuser, Tristan, Meistersinger and Walküre, through which the work first received its epithet ‘Wagner symphony’, an epithet that would be little understandable if one were only familiar with the other versions, since these manage without the quotations. In any case, one should grant the first version a strong individual personality, for in it, for the first time, Bruckner’s compositional style, which later became a characteristic feature, is fully developed. This is especially true of the harsh contrasts between huge melodic arcs and folk-musical simplicity, as well as between elegiac, flowing string passages and towering brass densities.
Norrington had already recorded the work ten years ago with his London Classical Players and caused a furor with his playing style committed to so-called historical performance practice: reviews varied from much enthusiasm to sharp rejection. This time, with the Stuttgart Radio Symphony Orchestra, opinions will not clash so harshly. By now one has become accustomed to Norrington’s approach to works of the classical and late romantic periods – from Mozart to Schubert or Mahler – which has sometimes resulted in surprising and convincing solutions, but often also in recordings that must be judged more as a ploy than an innovation. This is the case with this Bruckner recording, even though various solutions (e.g. the placement of the orchestra, the spatial sound effect and the sound contrasts) can impress.
(Remy Franck) Roger Norrington’s first version of Bruckner’s Fourth Symphony is so fast that one can only marvel. After all, he needs 10 minutes less than Simone Young with the Hamburg Philharmonic Orchestra on Oehms Classics, the recording we used for comparison. Where the American conductor underscores the radicalism of modern Bruckner with brash music-making, Norrington takes a more contrasting approach, accelerating here, slowing down there, switching from playfulness to introspection. For long stretches, this may sound as light and buoyant and perhaps less like Bruckner than is commonly imagined, but it is no less interesting. Young is more consistent in the development, for her the big breath is important, she builds on a rhetoric of big, wide tension, where Norrington cultivates more the little islands he swims past in the great Bruckner river, repeatedly running into rapids that then account for the considerable difference in time. Thus Bruckner’s Fourth does seem very bizarre, but vital throughout and ultimately very appealing. As an alternative recording it is valuable and belongs in any good Bruckner collection.
(Alain Steffen) – Norrington’s recording of Bruckner’s 6th Symphony is just as uninspiring as his recordings of Symphonies 3 & 4. The sound is thin, the architecture fragile. It is praiseworthy to perform Bruckner as authentically as possible, but the music does not support well this radical slimming down. Everything seems cobbled together and calculated; one looks in vain for a natural flow most of the time, though there are some very beautiful moments in the solemn Adagio. Given a well-served discography, Norrington’s Bruckner thus slips very quickly into the ranks of superfluous releases. The Stuttgart Radio Symphony Orchestra plays decently but falls well short of its potential.
(Remy Franck) – Roger Norrington conducts a highly interesting interpretation of Anton Bruckner’s Seventh Symphony. Not because he lets the orchestra’s strings play without vibrato, but because he gives Bruckner’s music refreshingly new dimensions. Not the serious, the grandiose, the hymnal, the in a sense superhuman is emphasized, but the music is brought into direct relation to Bruckner as a human being, to his endearing naiveté. In this way, Bruckner’s Seventh becomes more human, joy and sorrow, the playful as well as the tender, the exhilarating as well as the lyrical are portrayed in an honest and moving way. To achieve all this, Norrington uses very fast tempi in parts, which certainly sound quite unusual, but are part of this concept and therefore also make sense.
(Remy Franck) – It is truly special, this Ninth, but at the same time interesting. Norrington is basically concerned with banishing the consecration and dignity from the music. He achieves this by rhythmic pointing, by unusual accents and an altogether somewhat playful approach, whereby he brushes the music vigorously against the grain and achieves partly droll sound effects with novel weightings. Many a Brucknerian will moan at this, but it is good to hear this Ninth in such a new phrasing and accentuation, especially since the rather fast tempi are not really extreme.
Things become problematic in the Adagio, which Bruckner described as ‘Slow, solemn’. Norrington takes quite little time for it, only 18 minutes and 40 seconds, still 6 minutes less than Tintner, 7 minutes less than Karajan, 11 minutes less than Giulini, not to speak of Celibidache. Above all, however, it is the solemnity that is completely missing from the movement here. The music sounds rather gruff at times, downright grumpy, then later somehow resolved and purified. Norrington plays the music quickly towards the end and suddenly the movement is over before one had really expected it. And all the more painful is the absence of the non-existent final movement. With Norrington, one has the clear impression that the Bruckner Ninth is not finished with this Adagio.