Barbara Wunderlich, Sie waren zwei Jahre alt, als Ihr Vater tragisch verunglückte und verstarb. Haben Sie noch irgendwelche konkrete Erinnerungen an ihn?
Mehr oder weniger konkret. Ich kann mich vor allem an diese so angenehme Stimme erinnern und, dass er mich im Arm gehalten und in den Schlaf gesungen hat. Es gibt private Tonbandaufnahmen, wo er mir ein Mikrophon hinhält und versucht, mich zum Singen zu bringen: « Mach mal Lala!“, allerdings mit geringem Erfolg.Ich fand das Ding vor meiner Nase viel zu spannend. Wir Kinder durften auch dabei sein, wenn er daheim arbeitete. Die meisten Proben zur Dichterliebe, für die Hubert Giesen zu uns nachhause kam, habe ich im Musikzimmer im Laufstall miterlebt, der gleich neben dem Flügel stand. Daran erinnere ich mich leider nicht konkret. In jedem Fall ist es seine Stimme, die mich am meisten geprägt hat – sie ist wie eine ‘Brücke der Erinnerung’ an eine ansonsten eher unbestimmte, aber große Vertrautheit. Wenn ich ihn höre, fühle ich diese Form von Verbundenheit.
Was macht Ihrer Meinung nach die Stimme von Fritz Wunderlich so einmalig?
Es ist die Natürlichkeit, die am Ende eines langen Lernprozesses steht. Alles basiert auf dem natürlichen Atemfluss, das hat er in Interviews und auch privat immer wieder betont. Der Atem ist entscheidend. « Die Stimme frei strömen, frei fließen lassen und nichts tun“. Und natürlich die Beherrschung der Gesangstechnik. Seinen Atem hat er bereits als Kind trainiert, er spielte ja Trompete und Horn. Während seines Studiums in Freiburg hatte er Glück und fand die richtigen Lehrer zur Entwicklung seiner Technik. Die Studienzeit war entscheidend, auch das hat er oft gesagt. Der ‘lange Atem’ und die ‘richtige Technik’ machten es möglich, dass seine schöne Stimme (die man schon mit auf die Welt bringt oder nicht) und sein musikalisches Talent voll und ganz zum Tragen kommen konnten. Wenn er sang, tauchte er völlig in die Musik ein. Wohl eine Mischung aus Ausnahmetalent und kompromissloser Hingabe an die Musik, die für ihn das Höchste auf der Welt war. Diese Hingabe schwingt mit in jedem Ton und erreicht ganz unmittelbar jeden, der ihn singen hört.
Irritiert oder ärgert es Sie vielleicht sogar, wenn heute Sänger, die längst nicht die Qualitäten Ihres Vaters haben, mit ihm verglichen werden?
Es ist für einen jungen Sänger eine große Bürde, wenn er auf diese Erwartungshaltung stößt. Ich halte das für völlig deplatziert. Ein Sänger ist ein Individuum, das sehr viele Talente in sich vereinen und mit viel Mühe herausarbeiten muss. Es kommen so viele Faktoren zusammen, die für eine ideale künstlerische Entfaltung eines Sängers notwendig sind, da sind nicht nur Talent, Ausdauer und Können, sondern auch viel Glück und das richtige Umfeld entscheidend. All diese Faktoren haben sich bei meinem Vater ideal zusammengefügt.
Ich kann natürlich sehr gut nachvollziehen, dass der Verlust so manchen schmerzt und viele die durch seinen frühen Tod entstandene ‘Lücke’ gefüllt sehen wollen. Möglich ist das aber nicht. Jeder von uns ist einmalig… auch mein Vater. Das erste ‘Opfer’ dieser Hoffnung war Peter Schreier, ein großartiger Sänger, den übrigens mein Vater noch selbst gehört und empfohlen hatte, weil er sehr viel auf ihn hielt. Selbst als Schreier vor einigen Jahren seine Biografie veröffentlichte, stand in den Rezensionen wieder viel über die Frage, ob er denn nun der Nachfolger sei oder nicht. Das finde ich dem Künstler und seinem immensen Lebenswerk gegenüber nicht angemessen. Mein Vater profitierte in seiner Stuttgarter Anfangszeit sehr vom Zusammenhalt unter den Kollegen. Diese Tradition von ‘familiärer Unterstützung’ wollte er auch an kommende Generationen weitergeben. Er wollte nicht besser sein als andere Sänger, und alles, was er selbst über das Singen gelernt hatte, mit anderen zu teilen, war sein erklärtes Ziel: « Lernen und lernen lassen, das ist die Wahrheit“. Es freut mich, wenn junge Sänger aus seinen Aufnahmen für sich und ihre Entwicklung etwas mitnehmen können. Dabei kann aber nicht das Ziel sein, ihn zu imitieren oder zu ersetzen, sondern sein eigenes Potenzial zu entfalten. Was heute vielleicht schwerer als zu seinen Zeiten ist. Die Welt hat sich weitergedreht, die Branche ist seit den 1950er und 1960er Jahren immer fordernder und härter geworden.
Was schätzen Sie am meisten an ihm: Liedgesang oder Oper?
Das kann ich so nicht beantworten, es gibt in jedem Genre vieles, was ich sehr schätze. Am meisten bin ich aber wohl doch mit dem Lied verbunden, vielleicht wegen der Proben zur ‘Dichterliebe’, die ich als Baby miterlebt habe, vielleicht, weil ich selbst Pianistin bin. Es muss aber nicht ausschließlich Schubert oder Schumann sein, die Strauss-Orchesterlieder sind mir auch sehr lieb, vor allem ‘Morgen’.
In welcher Rolle mögen Sie ihn besonders?
Sein Don Ottavio liegt mir sehr am Herzen, er hat dieser oft eher farblos interpretierten Figur im ‘Don Giovanni’ (veröffentlicht bei DG) echte Virilität geschenkt und somit dem Titelhelden einen echten Gegenspieler beschert. Ich liebe aber besonders die Raritäten: Beispielsweise den Tiresias aus Carl Orffs ‘Oedipus der Tyrann’ (SWR, noch unveröffentlicht). Eine unglaublich fordernde Rolle! Da macht er wirklich unerhörte Dinge mit seiner Stimme. Faszinierend und kaum bekannt, auch wenn das Werk etwas sperrig ist: der Ferdinand aus ‘Columbus’ von Werner Egk. Hiervon existiert ein kurzer TV-Ausschnitt (BR, unveröffentlicht).
Was bedeutet die zum 50. Todestag erscheinenden Wunderlich-Editionen für Sie?
‘Wunderlich-Edition’ – das ist ein Thema, das mich seit 16 Jahren begleitet. Es sind im Laufe der Jahre viele Editionen erschienen. Aktuell ist es fast atemberaubend, es scheint, dass so gut wie alles, was er jemals aufgenommen hat, in den verschiedensten Boxen (z.B. Warner, Sony, Deutsche Grammophon) zum Jubiläum nochmal neu auf den Markt gekommen ist. Manches sogar erstmalig, wie die wunderschöne Edition von BR Klassik, auf der seine Münchner Sonntagskonzert-Beiträge erstmals erscheinen. Viele dieser Titel kennt man von ihm, ebenfalls mit dem Münchner Rundfunkorchester eingespielt, als Veröffentlichungen bei EMI oder DG. Allerdings entstanden diese Aufnahmen bei anderen Gelegenheiten, sind nach wie vor erhältlich und wurden oft auch im Rundfunk gespielt. Die Aufnahmen der Sonntagskonzerte schlummerten all die Jahre im BR-Archiv und wurden nun von den Original Tonbändern liebevoll remastert. Es sind viele seiner populären Highlights darunter. Der Dirigent und Komponist Willy Mattes dirigiert hier zum Beispiel seine „Melodia con Passione“, die er meinem Vater eigenhändig und sehr trefflich „in die Kehle komponiert“ hatte. Diese Aufnahme ist mein persönliches Highlight dieser Edition.
In den 11 Jahren der Karriere meines Vaters entstanden unglaublich viele Aufnahmen.Die Aufnahmequellen sind vielfältig: Studioaufnahmen von Bertelsmann über EMI bis DG, Rundfunkaufnahmen vom NDR, RBB, WDR, BR, ORF – und besonders umfangreich – vom SWR. Hier liegen auch einige seiner frühesten Aufnahmen – und die Vielfalt reicht bis in die letzte Zeit vor seinem Tod.
Es gibt zwei weitere Wunderlich-Editionen, die des SWR und die der Deutschen Grammophon, die mir besonders am Herzen liegen, denn beide spiegeln seine Vielfalt am besten.
Mir wurde das Vergnügen zuteil, die SWR-Edition, in der sukzessive alle Aufnahmen aus dem SWR-Archiv veröffentlicht werden, redaktionell zu begleiten. Es ist wie eine Zeitreise durch seine Karriere – und es gibt neben vielen bekannten Stücken auch außergewöhnliches Material zu entdecken. Die damaligen Sender SDR und SWF (heute SWR) waren in den 50er und 60er Jahren sehr experimentierfreudig, man entdeckte die ‘Alte Musik’, vergab aber auch Auftragskompositionen, es gab Uraufführungen von Werner Egk und Carl Orff und so manches heute vergessene Werk, Repertoire, das mein Vater mit Leidenschaft und Entdeckerfreude sang. Hier wird noch eine Seite von ihm zu beleuchten sein, die den meisten Fans doch unbekannt ist. Die SWR-Edition beginnt – natürlich – am Anfang. Mit den unbestechlichen Schlagern, aufgenommen unter Willi Stech in Freiburg – mit seine frühesten Aufnahmen sind dabei. Eine Auswahl dieser Schlager wurden in Zusammenarbeit mit meiner Familie vor Jahren bei der Deutschen Grammophon veröffentlicht, was mich zur anderen ‘Wunderlich-Edition’ bringt, denn diese CD (‘Wunderlich Populär’) ist auch in der neuen Wunderlich-Edition der Deutschen Grammophon enthalten.
1963 unterschrieb mein Vater einen Exklusivvertrag bei der DG, es war sein ausdrücklicher Wunsch, das Label seiner Wahl. Das Ergebnis dieser nicht einmal vierjährigen und doch so fruchtbaren Zusammenarbeit ist nun vollständig in einer Box verfügbar, was sicher auch ihn persönlich freuen würde (‘Fritz Wunderlich The Complete Studio Recordings on Deutsche Grammophon’).
Die DG hat nach seinem Tod sein künstlerisches Erbe stets in Ehren gehalten. Im Jahr 2010 nahm Jürgen Backhaus von der Deutschen Grammophon Kontakt zu meiner Mutter auf wegen einer geplanten Jubiläumsedition zum 70. Geburtstag meines Vaters. Die Idee war eine engere Zusammenarbeit mit der Wunderlich Familie. Meine Mutter, die über Jahrzehnte das Fritz Wunderlich Archiv aufgebaut hat, bat mich damals, sie bei diesem Projekt und denen, die darauf folgten, zu unterstützen. So mancher unveröffentlichte Schatz aus diversen Archiven – unter anderem des SWR – konnte veröffentlicht werden. Die Kopplung ‘Fritz Wunderlich 50 Greatest Tracks’ begleitet die große DG-Edition und enthält einige dieser Aufnahmen (z.B. Don Ottavio, Wiener Staatsoper, ‘Lied von der Erde’ unter Krips mit Fischer-Dieskau). Meine Mutter möchte sich nun endgültig aus der Archivarbeit zurückziehen und hat abschließend einige ihrer persönlichen Highlights für diese Doppel-CD zusammengestellt. Es ist also eine Art ‘Stabübergabe’ von ihr an mich, für mich persönlich eine echte Zäsur.
‘Fritz Wunderlich 50 Greatest Tracks’ ist auch in anderer Hinsicht besonders. Keine anderes Album stellt seine Vielseitigkeit und seine künstlerische Entwicklung so komprimiert dar – von den Anfängen beim SWR in Freiburg unter Willi Stech mit Schlagern wie ‘Mon Bijou’, wo er für ein kleines, selbst gespieltes Trompetensolo 10 Mark Extragage bekam, bis zu den großen Tenorhits wie ‘Granada’ oder ‘Mattinata’, von der Geistlichen Musik über die Barockoper und Mozart zu Puccini, Verdi, Wagner und Strauss bis hin zur Operette und – zuletzt weil am schwersten – dem Kunstlied. Ein atemberaubendes Repertoire für einen nicht mal Sechsunddreißigjährigen. Es gibt Live- und Studioaufnahmen, Mono und Stereo, und jede hat ihre eigene Geschichte.
Gibt es in diesen Editionen Aufnahmen oder Werke, die Sie nie mit Ihrem Vater gehört haben?
Die Raritäten, die in der BR- und der SWR-Edition erscheinen werden, kenne ich persönlich alle bereits, da Kopien dieser Aufnahmen schon seit Vaters Lebzeiten in unserem Archiv liegen. Der Öffentlichkeit waren aber viele dieser Aufnahmen bisher nicht zugänglich.
Auf ‘Fritz Wunderlich 50 Greatest Tracks’ wird unter anderem eine Rarität erstveröffentlicht, die ich vorher nicht kannte. Wagner stand noch nicht auf der Repertoireliste meines Vaters – mit gutem Grund. Auch wenn Wieland Wagner ihn schon in seinem ersten Stuttgarter Jahr als Lohengrin nach Bayreuth holen wollte – es gibt da einen sehr amüsanten Briefwechsel mit vielen kreativen Absagen meines Vaters und erneuten Anfragen von Wieland Wagner. « Mit 40 kommt die Träne in die Stimme“, sagte mein Vater, aber nur wenn man sie nicht überfordert und sorgsam trainiert. Wagner zu singen hätte Mozart unmöglich gemacht – für ihn in dieser Zeit unvorstellbar. In München war er in den letzten Jahren seines Lebens festes Ensemblemitglied. Drei oder viermal hat er den Steuermann gesungen im ‘Fliegenden Holländer’. Von einer dieser Aufführungen wurde kürzlich im Archiv der Bayrischen Staatsoper ein erstaunlich gut erhaltener Hausmitschnitt der Oper entdeckt. Das Steuermann-Lied wird nun erstmalig veröffentlicht. Es ist unglaublich, eine Erstveröffentlichung nach 50 Jahren. Und der einzige Live-Mitschnitt von ihm in einer Wagner-Partie.
Mehr zu Fritz Wunderlich, auch Biographiches, gibt es in ein em Beitrag von Lothar Brandt hier.