Der Nationalsozialismus hat offenbar nach 1945 stärker in den Wiener Philharmonikern festgesessen als vermutet. Das geht aus dem Beitrag « Ambivalente Loyalitäten: Beziehungsnetzwerke der Wiener Philharmoniker zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit, 1938-1970 » von Silvia Kargl und Friedemann Pestel hervor, der jetzt online gestellt wurde. « So wie 1945 eine ‘Stunde Null’ im philharmonischen Betrieb faktisch nicht stattfand, war der Übergang des Orchesters vom Nationalsozialismus in die Nachkriegszeit von personellen und daher auch politisch-weltanschaulichen Kontinuitäten geprägt. Diese Phase erstreckte sich bis mindestens in die späten 1960er-Jahre, in bestimmten Aspekten noch weit darüber hinaus und bedarf weiterer Forschungen », heißt es in dem Aufsatz.
Die vielfältigen, persönlichen wie administrativen Beziehungen von Orchestermitgliedern mit Protagonisten des NS-Systems « lassen sich aus der besonderen Position der Wiener Philharmoniker als privater Verein im gleichgeschalteten nationalsozialistischen Kulturbetrieb erklären, der seine Struktur, seine Traditionen und seine Spielfähigkeit wahren wollte, zugleich aber mit NS-Machthabern aktiv kooperierte », schreiben die Autoren.
« Gleichwohl erscheint der nach 1945 prominente Topos der Rettung des Orchesters dank der Kontakte seiner Leitung zu NS-Funktionären als einseitige Apologie und letztlich als verharmlosender Anachronismus. Die philharmonischen Funktionäre agierten unter den veränderten politischen Strukturen nach dem ‘Anschluss’ Österreichs keineswegs nur, um den Fortbestand des Vereins zu sichern, vielmehr legten sie die Bindung an das NS-Regime langfristig, über das (siegreiche) Kriegsende hinaus, an. Gerade das Orchesterjubiläum 1942 und die damit verbundene Ehrungspraxis zeigen, wie sehr die Wiener Philharmoniker ihre propagandistische Instrumentalisierung nicht nur in Kauf nahmen, sondern aktiv mitgestalteten », so Kargl und Pestel.
Unklar bleibe weiterhin, wie es in den Sechzigerjahren (sic!) zur Verleihung des Ehrenrings an den ehemaligen Gauleiter und verurteilten Kriegsverbrecher Baldur von Schirach kam. Die Frage, welcher Musiker Ende der 1960er-Jahre den Ehrenring nach München brachte, sei nicht eindeutig zu klären.