Dass sich die Entstehung von Giuseppe Verdis ‘Messa da Requiem’ einer Totenmesse verdankt, die als Gemeinschaftsarbeit von dreizehn italienischen Komponisten entstanden war, dürfte allgemein bekannt sein. Seit in den 1970er Jahren die lange verloren geglaubten Autographe wieder aufgefunden und 1980 jene ‘Messa per Rossini’ zur Uraufführung gebracht werden konnte, ist auch deren Musik wieder auf Schallplatte und vor allem in kirchenmusikalischen Konzerten präsent.
Dass es zur Entstehungszeit 1868/69 nicht zu einer Aufführung gekommen war, lag also nicht daran – wie stets angenommen wurde –, dass die Komposition nicht fertiggestellt worden wäre, sondern an Problemen im Zusammenhang mit einer Aufführung, die ursprünglich ein Jahr nach dem Ableben Gioachino Rossinis in Bologna hatte stattfinden sollen. Diese von Verdi unmittelbar nach Rossinis Tod am 13. November 1868 initiierte Totenmesse schufen neben ihm, der das abschließende Responsorium ‘Libera me, Domine’ beisteuerte, zwölf der seinerzeit angesehensten italienischen Tonsetzer – allesamt gestandene Opern- und Kirchenmusikkomponisten. Ihre Namen sind mittlerweile in Vergessenheit geraten: der unvergleichliche Erfolg, den die Musik Verdis damals hatte, und der bis in unsere Tage ungebrochen anhält, hat den Schatten der Bedeutungslosigkeit über die meisten seiner Zeitgenossen geworfen. Sehr zu Unrecht, denn neben Verdi existierten in Italien zahlreiche Musiker, die das geradezu unstillbare Verlangen des Publikums nach neuen Bühnenwerken und neuer Kirchenmusik befriedigten, die als Dirigenten die Qualität der Aufführungen gewährleisteten und erheblich verbesserten, die als Professoren die musikalische Ausbildung einer kommenden Generation sicherten.
Teodulo Mabellini (1817–1897), dreieinhalb Jahre jünger als Verdi und knapp vier Jahre vor diesem verstorben, war einer von ihnen. Er galt zu seinen Lebzeiten als einer der bedeutendsten Orchesterdirigenten in Italien; seine Opern, seine Oratorien und Festkantaten, seine Kirchenmusik, seine Lieder und Instrumentalkompositionen waren äußerst beliebt und brachten es auf eine ansehnliche Zahl an Aufführungen. Das Musik- und Kulturleben von Florenz prägte er für mehr als fünfzig Jahre. Und er bildete als Kompositions- und Kontrapunktlehrer einen Gutteil der jüngeren Musikergeneration aus. Vergessen wurde er einmal wegen der Dominanz der Musik und Persönlichkeit Verdis und weil er wegen respektabler Festanstellungen in Florenz die Ochsentour nicht mitmachen musste, die das Leben der italienischen Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts ausmachte: jenes typische Leben eines von Theater zu Theater reisenden Freischaffenden, das seinerzeit als notwendiges Übel verstanden wurde, um Erfolg und Ruhm zu erlangen.
Teodulo Mabellini wurde am 2. April 1817 als Sohn eines Instrumentenbauers in Pistoia nahe Florenz geboren. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf; der Vater lehrte ihn musikalische Grundlagen. Als Neunjähriger trat Teodulo bereits öffentlich als Flötist und Pianist auf; er spielte in Musikkapellen und im Ballett- und Opernorchester und sang im Chor der Kathedrale von Pistoia, wo er auch Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunk erhielt. 1832 wurden seine frühesten Kompositionen aufgeführt. 1836, nach erfolgreichem Abschluss eines dreijährigen Musikstudiums in Florenz, brachte das dortige Teatro Alfieri seine erste Oper ‘Matilde e Toledo’ heraus, die gut aufgenommen wurde. (Zur gleichen Zeit bemühte sich der 23-jährige Verdi vergeblich um die Organistenstelle in Busseto; seine erste Oper ‘Oberto, conte di San Bonifacio’ sollte erst 1839 am Mailänder ‘Teatro alla Scala’ herausgebracht werden.)
Der Erfolg seiner Oper brachte Mabellini ein Stipendium des Großherzogs der Toskana ein, so dass der Zwanzigjährige im Mai 1837 für dreieinhalb Jahre nach Novara gehen konnte, um bei Saverio Mercadante, einem der fruchtbarsten Opernkomponisten jener Zeit, zu studieren. Für den Dom von Novara entstanden zwei Messen, für den Florentiner Hof Kantaten – und am 12. November 1840 erlebte der gerade einmal 23jährige Komponist seinen ersten nachhaltigen Erfolg mit seiner am ‘Teatro Carignano’ in Turin uraufgeführten Oper ‘Rolla’, die sogleich vom Mailänder Musikverlag Ricordi veröffentlicht wurde. Das tragische Werk um einen fiktiven Renaissancebildhauer erlebte anschließend zahlreiche Wiederholungen in ganz Italien und auch im Ausland. Bevor Mabellini seine Studien bei Mercadante beendete, wurde am 13. November 1841 – ziemlich genau ein Jahr nach der erfolgreichen Premiere von ‘Rolla’ und wieder in Turin – seine Oper ‘Ginevra di Firenze’ (auch ‘Ginevra degli Almieri’) herausgebracht.
Bis hierher war die Laufbahn Mabellinis typisch für die eines italienischen Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts. Doch anstelle der Ochsentour, die einen Opernkomponisten von Stadt zu Stadt und Theater zu Theater, zwischen Erfolgen und Fiaskos bevorstand, konnte er sich ein solides Auskommen in Florenz sichern. In der Hauptstadt der Toskana gab es ein lebendiges kulturelles Leben unter einer liberalen Regierung; freilich war Florenz alles andere als der Nabel der Musikwelt.
Der Erfolg seiner am 4. Juni 1843 am ‘Teatro della Pergola’ in Florenz uraufgeführten Oper ‘Il conte di Lavagna’ sorgte dafür, dass ihm die Leitung des Orchesters der ‘Società filarmonica di Firenze’ übertragen wurde. Als Orchesterdirigent gelang es ihm im Verlauf etlicher Jahrzehnte, seine Landsleute mit dem Kernrepertoire der internationalen, vor allem der deutsch-österreichischen klassischen und romantischen Instrumentalmusik bekannt zu machen – auf höchstem interpretatorischem Niveau. In Italien wird er bis heute für diese Leistungen geschätzt, während man ihn als Komponisten auch dort vergessen hat.
Mabellini schrieb weiterhin Opern; der Schwerpunkt seiner kompositorischen Arbeit verlagerte sich aber auf die Ausgestaltung großer offizieller Feierlichkeiten der Stadt Florenz und des Großherzogtums Toskana, wo Festkantaten und abendfüllende Oratorien Tradition hatten. Am 22. Juni 1845 wurde im repräsentablen ‘Saal der Fünfhundert’ im ‘Palazzo Vecchio’ in Florenz das ‘geistliche Drama’ ‘Eudossia e Paolo o I martiri’ uraufgeführt – das erste einer Reihe von Werken, wie sie seinerzeit beliebt waren: einer Mischform aus Oratorium und sakraler Oper, die auch Rossini mit seinem ‘Mosè in Egitto’ bedient hatte. Mabellinis Oratorien erlebten eine Vielzahl an Aufführungen; einige ihrer Titel wurden aufgrund der nicht eindeutig zuzuordnenden Gattung auch als Opern verstanden.
Nachdem Mabellini Anfang 1848 zum Kapellmeister der Florentiner Hofkapelle bestellt wurde, konnte er sich weiter für das deutsch-österreichische Repertoire einsetzen, wie es am Hof des Habsburgisch-Lothringischen Großherzogs gepflegt wurde. Kurz darauf wurde er noch zum Operndirigenten des Teatro della Pergola berufen, an dem er ebenfalls mehrere Jahrzehnte lang wirken sollte. Er war einer der ersten italienischen Orchesterleiter, der nicht als Instrumentalmusiker begonnen hatte; zusammen mit dem bedeutenden italienischen Kapellmeister und Orchesterleiter Angelo Mariani begründete Mabellini das Berufsbild des modernen Dirigenten. Er wurde geschätzt für seine Werktreue, mit welcher er klassische und zeitgenössische Werke aufführte, und für seine Bescheidenheit im Umgang mit den Zeitgenossen.
Mabellini war nicht einmal dreißig Jahre alt, als er sich sowohl als Komponist von Bühnenwerken, repräsentativen Kantaten und Kirchenmusik wie auch als Dirigent mit respektablen Festanstellungen hatte etablieren können: er hatte erfolgreich die Gattung der Oper bedient, die wichtigste Form im italienischen Musikleben – und sogar an wichtigen Opernhäusern; seine Musik hatte sich zum wesentlichen Bestandteil der Repräsentationen des Toskanischen Hofes entwickelt. Das Orchester der ‘Società filarmonica’ konnte er rasch zu einem der wichtigsten Klangkörper in Italien formen. 1846 heiratete er die Tochter eines Florentiner Apothekers; aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Mabellini hatte sich musikalisch wie gesellschaftlich bestens positioniert.
Mehrere Messen und Motetten waren seit der Studienzeit in Novara entstanden; die 1847 entstandenen Responsori per la settimana santa wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten in der Florentiner Hofkapelle jeweils während der Karwoche musiziert. Ein Werk aber war es vor allen anderen seiner Kompositionen, das ihm zu seinen Lebzeiten größten Erfolg und Ruhm in Italien und ganz Europa einbrachte: seine Grande Messa di Requiem von 1850/51, die Vorbild und Modell für alle nachfolgenden Totenmessen im 19. und frühen 20. Jahrhundert sein sollte – einschließlich Verdis Messa da Requiem von 1874. Mabellinis Requiem c-Moll für Solostimmen, Chor und großes Orchester ergänzte und vervollständigte er 1856 um eine Vertonung des Responsoriums Libera me, Domine. Bei der Uraufführung des Requiems am 15. Mai 1851 in der Kirche San Gaetano in Florenz war Gioachino Rossini anwesend, der den „echten liturgischen Stil“ der Totenmesse lobte und einen Vergleich mit Mozarts Requiem anstellte: während die Deutschen jenes rühmten, würden die Italiener ab sofort dasjenige Mabellinis bevorzugen.
Der Vergleich war nicht überzogen. Mabellinis Requiem war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa die am meisten aufgeführte Totenmesse – vor denjenigen Mozarts oder Cherubinis. Nicht von ungefähr bat Verdi den Kollegen Ende 1868, sich an der Gemeinschaftsarbeit einer Messa per Rossini zu beteiligen. Mabellini vertonte in dieser Totenmesse, bei deren Struktur sich Verdi an Mabellinis Vorbild orientiert hatte, das Lux aeterna – seine einzige Komposition übrigens, von der bislang eine Schallplattenaufnahme vorliegt. (Nachdem die Aufführung nicht zustande gekommen war, überarbeitete Mabellini seinen Beitrag 1880 zu einer Festkantate, die anlässlich der Enthüllung einer Büste Palestrinas in Rom aufgeführt wurde.) Und selbst in Verdis eigener ‘Messa da Requiem’ von 1874 finden sich – abgesehen von der formalen Anlage und der ähnlichen Orchesterbesetzung – deutliche Hinweise darauf, dass Verdi die 24 Jahre vorher entstandene Totenmesse seines Zeitgenossen bestens kannte und schätzte: manche Abschnitte weisen ganz eindeutig auf dieses Vorbild hin, gelegentlich hat Verdi sogar thematische und formale Strukturen übernommen und dann seinem Stil angeglichen.
Lange Jahre hatte es die anfänglich eher als modernistisch verstandene ‘Messa da Requiem’ Verdis schwer, sich gegen Mabellinis Meisterwerk durchzusetzen. Die italienischen Komponisten des letzten Jahrhundertviertels orientierten sich noch sehr an Mabellinis Requiem; erst spät nahm man sich dasjenige Verdis als Vorbild für eigenes kirchenmusikalisches Schaffen. Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Mabellinis ‘Grande Messa di Requiem’ freilich kaum mehr aufgeführt. Und dass es zum Doppeljubiläum 2017 – dem 200sten Geburts- und 120sten Todesjahr des Komponisten – in seiner Heimatstadt Pistoia und in Florenz zu keinen Aufführungen seiner bedeutenderen Werke kam, war unter anderem auch dem Fehlen von brauchbarem Notenmaterial geschuldet.
Als Komponist hatte Mabellini zahlreiche hervorragende Qualitäten: er hatte eine hervorragende Ausbildung, er arbeitete erfolgreich in verschiedenen Gattungen, er beherrschte meisterhaft Kontrapunkt und Instrumentation, war technisch sicher und souverän und er baute auf einer gründlichen Kenntnis der europäischen klassischen Musik auf. Sein Personalstil unterscheidet sich deutlich von Mercadante oder Verdi; er verbindet den italienischen belcanto mit den Traditionen der deutsch-österreichischen Instrumentalmusik. Seine Opern- und seine Kirchenmusik unterscheiden sich deutlich. Die großen Fugen und Doppelfugen seiner Messen und seines Requiems sind nicht nur kontrapunktische Meisterwerke; sie sind auch glänzend instrumentiert. Gut möglich, dass selbst Johannes Brahms Mabellinis Requiem gekannt hat – sein Deutsches Requiem von 1868/69 weist sehr ähnlich strukturierte und orchestrierte Fugen auf.
Mabellini hinterließ acht Opern (Matilde e Toledo, Rolla, Ginevra di Firenze, Il conte di Lavagna, I veneziani a Constantinopoli, Maria di Francia, Il venturiero und Fiammetta), vier Opern-Oratorien (Eudossia e Paolo, L’ultimo giorno di Gerusalemme, Il convinto di Baldassarre und Elima il mago) sowie zahlreiche Festkantaten und -chöre. Seine Kirchenmusik beinhaltet neben dem Requiem neun große Messen und zahlreiche Motetten – zumeist mit Orchesterbegleitung. Er schuf etliche Klavierlieder (Romanze) und patriotische Lieder, Klavierstücke, instrumentale Kammermusik, mehrere Konzerte für Blasinstrumente mit Orchester und einige Werke für Orchester und Blasorchester (Banda).
Ausführlichere Biographien liegen bislang ausschließlich in italienischer Sprache vor. Empfehlenswert ist der von Claudio Paradiso herausgegebene Sammelband ‘Teodulo Mabellini – Maestro dell’Ottocento musicale fiorentino’ (Rom, Società Editrice di Musicologia, 2017), den man unter www.sedm.it als Printausgabe bestellen oder als pdf-Datei herunterladen kann. Der Band beinhaltet unter anderem eine ausführliche Biographie und ein detailliertes Werkverzeichnis. Auch der italienische und ins Englische übersetzte Wikipedia-Artikel ist recht sorgfältig und aktuell.
Mabellinis ‘Grande Messa di Requiem’ von 1850/51 zusammen mit dem ‘Libera me, Domine’ von 1856 liegt nun in einer von mir selbst nach den originalen Quellen erarbeiteten musikkritischen Ausgabe vor, die der Musikverlag Christoph Dohr in Köln veröffentlicht hat. Die Partitur ist soeben erschienen, Klavierauszug und Aufführungsmaterial (Orchesterstimmen und Dirigierpartitur) folgen in Kürze.
Die Neuausgabe basiert auf den originalen Handschriften des Komponisten, welche die Musik eindeutig wiedergeben, während die 1853 respektive 1856 in Paris erschienenen Erstdruckausgaben zahlreiche Fehler aufweisen: der Notenstecher war mit Handschriften italienischer Komponisten ebenso wenig vertraut, wie mit den Eigenarten von Mabellinis Notenschrift, und traf falsche Entscheidungen; das Material wurde außerdem sehr übereilt hergestellt. Überhaupt sind Druckausgaben aus jener Zeit heutzutage kaum brauchbar: sie sind unübersichtlich aufgebaut, die Systeme liegen zu eng beisammen und überschneiden sich fast, die Solo- und Chorstimmen sind in alten Schlüsseln notiert, und es hat kein Orchesterstimmensatz überlebt.
Da das Hauptwerk des Komponisten Teodulo Mabellini nun in einer modernen Notenausgabe vorliegt, besteht neben der Möglichkeit, zahlreiche immer wiederholte Vorurteile endlich – anhand des Notenbilds – schlüssig zu widerlegen, auch die Grundlage zu ersten Aufführungen und Einspielungen nach immerhin fast 120 Jahren. Sämtliche Artikel in den einschlägigen Musiklexika sind befangen, denn ihre Autoren haben stets nur die gleiche ungerechte Beurteilung eines Musikhistorikers wiederholt, anstatt sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen und sich von der augenfälligen Qualität der Kompositionen überzeugen zu lassen. Man mag ihnen zugestehen, dass es nicht einfach war, an das Notenmaterial heranzukommen. Doch nun besteht die Möglichkeit und außerdem die Verpflichtung, Vorurteile zu revidieren und ein gerechteres Urteil zu fällen. Und gewiss werden sich bald auch die Konzertbesucher einen lebendigen Höreindruck machen können.
Zwei kleinere Werke Mabellinis, die vorab in der Edition Dohr vorgelegt wurden, sind von Musikern und Kritikern sehr gut aufgenommen worden; weitere Erst- und Neuausgaben sind in Vorbereitung. Möge sich alsbald ein experimentierfreudiges Theater finden, das auch eine Oper Mabellinis wiederbelebt – sein ‘Rolla’ etwa hat einiges Potential. Es gilt, einen zu Unrecht vergessenen Komponisten des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken, der meisterliche und dabei durchaus eingängige Musik geschaffen hat, der in allen wesentlichen Gattungen arbeitete, und dessen Musik auf der Opernbühne, in der Kirchen oder auf dem Konzertpodium bestens funktionieren dürfte und einen wichtigen Beitrag zur Bereicherung des Repertoires leisten kann.