Peter P. Pachl Generaldirektor des Berliner Pianopianissimo-Musiktheaters verfolgt unermüdlich Spuren zu Unrecht vergessener Komponisten. Sein neues Projekt ist die erste vollständige Aufführung von Anton Urspruchs Oper Die heilige Cäcilia, das am 21. November uraufgeführt wird. Ferner gibt es eine Voraufführung am 19. 11. und einer weitere Aufführung am Cäcilientag selber. Zu den Planungen zählen auch die Aufzeichnung durch den WDR und deren Erstausstrahlung am 02. 01. 2022 sowie eine Zweitverwertung auf DVD und CD.
Anton Urspruch hatte etwa die Hälfte der Oper als Partitur hinterlassen, Ulrich Leykam vervollständigte sie anhand des Klavierauszugs. In der Oper über die Schutzpatronin der Kirchenmusik, schafft der Gregorianik-Forscher und vom NS-Regime verfemte Komponist Anton Urspruch eine Synthese aus gregorianischem Choral und Synagogalgesang und überträgt die Schönheiten des jüdischen Tempelgesangs auf die Harfe-spielende Cäcilia.
Cäcilias Harfe erklingt als ein unendliches, sphärisches Klanggebilde, welches Jubel und ungeahnte Harmonien selbst dann evoziert, wenn andere in Trauer und Klagen ausbrechen. Konfrontiert mit den von Folter gezeichneten Körpern ihres Gatten und ihres Schwagers, stimmt Cäcilia einen Jubelhymnus an, unmäßig jauchzend und mit außergefallenen Sprüngen und extravaganter Harmonik in Urspruchs unkonventioneller Tonsprache, angesiedelt zwischen Spätromantik und Moderne.
Wie Pachl betont, geht der Einsatz von Chören in dieser Oper « weit über die üblichen Einsätze des Chores in sogenannten Choropern – wie Richard Wagners Lohengrin und Parsifal oder Modest Mussorgskys Boris Godunow und Khowantchina – hinaus und überbietet dabei sogar, was von Olivier Messiaen – thematisch durchaus verwandt – mit dem Saint François d’Assise im zwanzigsten Jahrhundert hinsichtlich des Einsatzes von Chören in einer geistlichen Opernhandlung als neuer Maßstab gesetzt wurde. »
Insgesamt werden an diesem Projekt 18 Solisten, 10-12 Tänzer, ca. 40 – 60 Choristen, ein Orchester mit etwa 87 Musikern sowie 13 künstlerische Vorstände beteiligt sein.
Anton Urspruch (1850 -1907) war ein Lieblingsschüler von Franz Liszt und hatte in Weimar dessen kostenlosen Unterricht genießen dürfen. Liszt förderte den jungen Anton Urspruch in besonderem Maße – und Urspruch hatte eine glänzende Karriere erzielt, vor allem als Pianist, aber auch als Komponist.
Zu seinen Lebzeiten war er ein viel beachteter und weit gereister Solist, wurde Dozent unter anderem am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt, wo er Freundschaft mit Clara Schumann schloss. Seine Kompositionen wurden in ganz Europa vielfach aufgeführt und hoch gelobt. Sein Gesamt-Oeuvre umfasst neben drei Opern die Genres Kammermusik, Lieder, Oratorium und Sinfonik.
Nun gilt es, den Höhepunkt von Anton Urspruchs kompositorischem Schaffen, seinen Schwanengesang Die heilige Cäcilia für eine lebendige Aufführungspraxis des Musiktheaters im 21. Jahrhundert zu erschließen.
In seinen letzten Lebensjahren hat Anton Urspruch an seinem Meisterwerk, der fünfaktigen Oper Die heilige Cäcilia gearbeitet. Für den ersten Akt seiner Oper, der als Exposition fast die Hälfte des Werk-Umfangs ausmacht, hatte der Komponist bereits die Orchesterstimmen ausschreiben lassen, zumal der Dirigent Siegfried Ochs eine vorgezogene Uraufführung dieses Aktes als Oratorium in Berlin angekündigt hatte. Doch nach dem plötzlichen Tod des Komponisten im Januar 1907 wurde nichts mehr aus der projektierten oratorischen Teil-Aufführung in der Berliner Philharmonie.
Offenbar erfolgte die Absage im Zuge eines sich immer stärker ausbreitenden Antisemitismus.
Die Vollendung und Uraufführung der Oper Die heilige Cäcilia als postumes Hauptwerk von Anton Urspruch versteht sich somit als ein wesentlicher Beitrag zur späten Wiedergutmachung an dem durch die NS-Kulturpolitik verfemten Komponisten Anton Urspruch.
Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die familiären Hintergründe, die vom Pianopianissimo-Musikthater ausführlich aufgearbeitet wurden:
Am 17. Februar 1850 wurde dem Kantor der jüdischen Synagoge in Frankfurt am Main ein Enkel mit Namen Anton geboren. Der Kantor mit dem Namen Sänger ist seinem Enkelkind offenbar nie begegnet, denn seine Tochter Anna Elisabeth hatte sich im Zuge der Integrierung der Juden in die bürgerlichen Kreise Frankfurts protestantisch tauften lassen und so gänzlich die Verbindung zu ihrer Familie verloren. Im Jahre 1848 heiratete sie den einer Künstlerfamilie entstammenden politischen Redakteur Carl Theodor Urspruch. Doch ihrem Sohn Anton wurde die « uralte Tradition religiösen Gesanges » der Synagoge « in die Wiege gelegt », wie es später dessen Tochter Theodora Kircher-Urspruch formuliert hat.
Die jüdischen wie die deutschen Wurzeln schufen im Leben des Komponisten ein kreatives Spannungsfeld als Quell für ein künstlerisch reiches Schaffens.
Die Entstehung und Thematik der Oper ist eng verknüpft mit dem Lebensweg des Komponisten und mit dessen jüdischen Wurzeln, die ihm – trotz seiner Erziehung im protestantischen Elternhaus – stets bewusst geblieben sind.
Über das mehrjährige, intensive Studium der Gregorianik fand der Komponist gegen Ende seines Lebens zurück zu seinen Wurzeln in der jüdischen Musik. Der Brennpunkt im Inneren des Komponisten Anton Urspruch fand über die Kunst dann doch den Weg nach Draußen – und nunmehr, spät aber doch, zu der vom Komponisten mit seiner Oper intendierten öffentlichen Auseinandersetzung.
Inhaltlich behandelt das von Anton Urspruch selbst verfasste Libretto jene Konversion, welcher er in der Person seiner über Alles geliebten Mutter Anna Elisabeth begegnet war.
Deren vergrabene Konflikte hat der Knabe offenbar schon früh aufgenommen und über Jahrzehnte hinweg still in sich verarbeitet. Der Dichterkomponist projiziert jene menschliche Diskrepanz der äußerlich von ihren familiären Wurzeln abgeschnittenen Frau, die ganz der Liebe zu ihrem Mann und Kind lebt, in seine eigenwillige Deutung der bekannten Legende von Cäcilia, der Patronin der Kirchenmusik (vgl. Kleist): In Urspruchs Libretto begegnet der Zuschauer Cäcilia als einer gläubigen Vestalin im alten Rom. Im Sinne ihrer Religion betreut sie zum Tode verurteilte Christen – und konvertiert heimlich selbst zum christlichen Glauben. Entgegen dem geltenden Gesetz bestattet sie Märtyrer in ihrer Villa. Sie wird entdeckt, verurteilt und hingerichtet. Doch ihr Beispiel selbstlosen Handelns macht Schule.
Psychologisch bezeichnend ist, dass Anton Urspruch seinen Konflikt als ein Heimatloser im eigenen Land in sich vergraben hat. Laut Veronica Kircher hat er nie über seine Mutter gesprochen. Ein Heimatloser im eigenen Land – das gemahnt an den eine Generation jüngeren Komponisten Arnold Schönberg, der 1898 in Wien vom jüdischen Glauben zum Protestantismus konvertiert war und 1933 in Paris zum Glauben seiner Vorväter rekonvertierte.
Zur Komposition, liefert das Pianopianissimo-Musiktheater folgende Informationen:
Jüdischer Gottesdienst geht auch auf vorisraelitische Ursprünge zurück. Christlicher Gottesdienst ist ohne die jüdische Bibel nicht denkbar. Diese liefert „gottesdienstliches Material“ für das Judentum wie auch für das Christentum. Ebenso bildete die Musik des Judentums die Wurzel für die katholische Kirchenmusik. Und vom Synagogalgesang wurde auch das antiphonische Singen ins Christentum übernommen. Auf dieser Konstellation als einer Art von Kreisbildung basiert Anton Urspruchs gewaltige Opernpartitur.
Ungewöhnlich in der Wiedergabe der Legende und dramaturgisch raffiniert ist die für Urspruch originäre Verbindung Cäcilias mit der Musik: Er macht Cäcilia in der Gruppe der Jungfrauen der Vesta kurzum zu einer Harfe spielenden Vestalin. Bekanntlich hat das Christentum, als es zur Römischen Staatsreligion wurde, zahlreiche Elemente der im Volk verwurzelten Religionen und Kulte, wie den Mithras- und den Isis-Kult übernommen. Und selbstredend sind die vestalischen und die marianischen Jungfrauen, wie Urspruch dies klar erkannt und kühn umgesetzt hat, durchaus verwandte Erscheinungen.
Gipfelnd in der Friedensbotschaft des Finales seiner Oper, hat Anton Urspruch die Schönheiten des jüdischen Tempelgesangs übertragen auf die Harfe der Cäcilia, einem in der Handlung verwandelten Instrument alten Glaubens. Cäcilias Harfe überführt die Tradition des Venusischen Gesanges in die Reinheit der Diatonik: tonal notiert, aber als ein unendliches, sphärisches Klanggebilde, welches Jubel und ungeahnte Harmonien selbst dann evoziert, wenn andere in Trauer und Klagen ausbrechen würden. Konfrontiert mit den durch Marter verunstalteten, blutigen Körpern ihres Gatten und ihres Schwagers, stimmt Cäcilia einen Jubelhymnus an, unmäßig jauchzend und ungewöhnlich in Sprüngen und Harmonik, eine Verzückung mit paraerotischer Wortwahl in Urspruchs – zwischen Spätromantik und Moderne angesiedelter – ungewöhnlicher Tonsprache.
Emotional hoch-geladen, steigert Anton Urspruchs eindringliche Musiksprache das Erleben deutsch-jüdischer Geschichte.
Den orchestralen Aufwand dieser Oper – dreifaches Holz, acht Hörner, 3 Cornets á Piston, 3 Posaunen, 4 Tuben plus Basstuba, bis zu vierfach geteilte Streicher sowie Schlagwerk – reduziert der Komponist am Ende auf die unbegleitete Stimme: Zwanzigstes Jahrhundert, traditionell jüdische Melismatik und Gregorianischer Choral reichen sich die Hand: Urspruch schafft musikalisch die Synthese von Synagogalgesang und Gregrorianik, orchestral gehüllt in ein an die französische Musiktradition gemahnendes Gewand großer Farbigkeit: Klangliches Abbild der Heterogenität der Religionen und ihrer Vermischung im frühen 20. Jahrhundert.
Die multimediale Inszenierung der Partitur eröffnet dabei neue Perspektiven auf die Durchdringung von jüdischer Kultur mit westlichen Einflüssen in der Geschichte Europas. Unter Einsatz von Live- und Dokumentarvideos wird der historische Dreisprung von Mythos, 19. Jahrhundert und der jüngeren politischen Vergangenheit vollzogen, hin zu einem die Erfahrungen des 20. Säkulums verarbeitenden 21. Jahrhundert.
Dem Wunsch der in Münster ansässigen und aktiven Anton Urspruch Gesellschaft e. V. soll die Uraufführungsproduktion der in Westfalen-Lippe erfolgen.
Insgesamt soll es zunächst drei Aufführungen geben: Die Uraufführung soll am Vorabend des Cäcilientages, am Sonntag, dem 21. November 2021 erfolgen; am Cäcilientag, dem 22. 11. 2021 erfolgt die 2. Aufführung.
Eine öffentliche Voraufführung am 19. November, die Uraufführung am 21. November und eine weitere Aufführung am 22. November 2021 werden in der Gebläsehalle der Henrichshütte Hattingen erfolgen.