Es gibt aktuell viele gute Streichquartette. Sie unterscheiden sich in Stil und Werkauswahl für ihre Auftritte und Einspielungen. Heuer war das Quatuor Diotima, das sich aus Absolventen des Conservatoire de Paris zusammensetzt, im Mozart Saal des Wiener Konzerthauses zu Gast. Uwe Krusch erlebte für Pizzicato mit, was die vier Musiker zum Ehrentag von Pierre Boulez und auch sonst vorbereitet hatten.
In der Mitte des Programms boten sie gewissermaßen „alte“ Musik an, nämlich das noch im vorletzten Jahrhundert komponierte Quartett von Claude Debussy. Auf für die meisten Zuhörer bekanntem Terrain entfalteten sie ihr phänomenales Zusammenspiel. Die genaue Abstimmung im Quartett kann man auch bei vielen anderen erleben. Beim Quatuor Diotima erreicht das aber eine besonders ausgeforschte Qualität an gleichberechtigtem Zusammensein, das auch die erste Geige nicht herausstellt und auch keinen der anderen drei Mitwirkenden irgendwie zurücklässt. Das sich diese feinsinnige Abstimmung ebenso für die Intonation wie für Phrasierung und Ausdrucksqualität feststellen lässt, macht ihre Auftritte zum Genuss.
Für Debussy entwickelten sie ein höchst farbintensives Ambiente, das sensibel pikante leise ausformulierte Momente ebenso erlaubte wie es großen Klang gestattete, ohne deswegen ins solistische Markieren zu entgleiten.
Den Abend eröffnet hatten sie mit dem kurzen Streichquartett op. 28 von Anton Webern. Das vor knapp 90 Jahren komponierte Stück entwickelten sie mit der ihm immanenten körnigen Fokussierung des Ausdrucks auf die in mehrfacher Hinsicht ausgeklügelte Zwölftonreihe. Als Zugabe schloss das Ensemble dann zum Konzertende den Kreis mit dem 4. Satz, Sehr langsam, aus Fünf Sätze für Streichquartett op. 5 von Webern.
Das Hauptwerk des Abends stellte das Quatuor Diotima ans Ende des Programms. Auch mit seiner Dreiviertelstunde Dauer beanspruchte das einzige Quartett von Pierre Boulez seine solitäre Stellung. Der Titel „Livre pour quatuor“ kam erst später zur Komposition. Zum großen Teil vom 23jährigen Komponisten geschrieben, hat er wie bei vielen seiner Werke später noch etliche Änderungen einfließen lassen, was ihn bis ins Jahr 2012 beschäftigte. Dabei ließ er den vierten der durchnummerierten sechs Sätze bewusst unvollendet. Im Konzert spielten sie diese Version ohne den von Philippe Monoury editierten vierten Satz, den sie in ihrer gerade vorgelegten Einspielung mit aufgenommen haben.
Den Musikern gelang es in staunenswerter Weise, die musikalische Prosa des Werkes, das so reich an Anforderungen und zu beachtenden Details jeden Interpreten über-fordert, zu heben. Die im Stück verarbeitete Polyphonie, die sich einerseits reell ergab, weil die vier Stimmen jeweils eine eigene Linie zeichneten und andererseits durch die Einwürfe der Instrumente, so dass sich aus dem gemeinsamen Spiel musikalische Figuren ergaben, die streng artikuliert waren, machten sie glasklar deutlich. Die reelle Polyphonie ließ sich vor allem in den Sätzen III und V nachvollziehen. Des Weiteren verdeutlichten sie, dass die Zwölftonreihe in dieser Komposition rhythmische Strukturen einkleidet und nicht in erster Linie eine strukturelle Funktion hat.
Mit ihrem notgedrungen hochkonzentrierten Wiedergabe und doch immer auch im Klang klassisch schön bleibend, erlaubten sie sich und den Zuhören, dieses so komplexe Quartett in einem geradezu kurzweiligen und intensiven Rausch aufzusaugen, wie man ihn bei so einer modernen Musik kaum erwarten würde. Hörerherz, was willst du mehr?