Die Tschechische Philharmonie gehört zu den ersten Orchestern, die die Musik von Gustav Mahler gespielt haben. So leitete Mahler selber in Prag die Uraufführung seiner 7. Symphonie. Wie das Orchester sich heute mit dem aktuellen Chef Semyon Bychkov der 6. Symphonie näherte, hörte Uwe Krusch für Pizzicato.
Dieses abendfüllende Werk reichte als alleiniges Stück für ein Konzert. Das betraf nicht nur die Dauer, sondern auch die inhaltliche Intensität. Obwohl in einer recht glücklichen und erfolgreichen Lebenssituation entstanden, zeigten beispielsweise die Schicksalsschläge im letzten Satz, dass Mahler mit dieser Musik immer auch den Tod im Sinne hatte und nicht nur seine aktuelle Situation abbildete.
Der erste Satz der Symphonie ist ein sich mit der Sonatensatzform entwickelnder Marsch, der immer gewaltiger wird und Nebenaspekte hören, sich aber nicht entwickeln lässt. Bychkov spornt das Orchester an, diese steigende Intensität zu entwickeln. Zwar zeigen die Tschechen in den Streichern von den vorderen zu den hinteren Pulten durchaus unterschiedlich ausgeprägten Einsatz, doch formt das Ensemble als Ganzes mit angespanntem Musizieren das Werk. Der Weckruf dieses Satzes, anders als in Mahlers Liedern hier rein instrumental, wurde deutlich herausgeschabt. Doch bei allem gelang es den Musikern, immer klangschön zu spielen und einen vollen warmen Ton auszubalancieren. Im Gesamtblick durfte man das Spiel der Tschechischen Philharmonie als grandios bezeichnen, denn die meisten Musiker spielten virtuos, sozusagen auf der Stuhlkante.
Es gelang Bychkov ausgezeichnet, im nachfolgenden Scherzo die Heftigkeit des Marsches vom ersten Satz aufzugreifen, um die sich danach einschleichenden ironischen bzw. skurrilen Einsprengsel hervor zu heben.
Im ebenfalls kürzeren langsamen Satz, dem Andante, gelang es fast schon bildhaft, die immer wieder lyrischen Einschübe bzw. die Anklänge an das vierte Kindertotenlied so zu formen, dass man in Richtung einer sphärischen Entrückung geleitet wurde, bevor dann wieder ein Signal einen Ausbruch hervorbrachte, der zum Satzende führte. Hier gelang dem Orchester eine ebenso lichtvolle und charmante Deutung wie auch das anschließende Finale schon mit kantigerem Auftritt angezeigt wurde.
Nach nunmehr bereits 50 Minuten folgte dann der halbstündige vierte Satz, der sich von einem Allegro moderato zu einem Allegro energico entwickelte. Für viele Zuhörer mag es wohl an diesem unhandlichen, so mit Elementen dicht gepackten Satz liegen, dass die Symphonie auch heute noch als Tragische bezeichnet wird, wenn auch dieser Name nicht von Mahler stammt. Sicherlich bildet der Satz gewissermaßen eine Umkehrung des vorher Gehörten, also des Weges zur Erfüllung. Hier zeigt Mahler ein Niederreißen, wenn nicht gar Zerstörung. Denn die extrem kurze Coda deutet mit zerfallenden Motiven morsches Gemäuer oder Sprachlosigkeit an.
Diese ebenso wuchtige wie auch aufgewühlte und ekstatische Musik wurde von Bychkov und seinen Musiker der Tschechischen Philharmonie so unmittelbar und wirkungsvoll entfaltet, dass dieser schwierig zu hörende, aber eben auch äußerst packende Satz die klug und auch effektvoll, aber nicht reißerisch herausgeformte Dramaturgie des Dirigats voll zur Blüte brachte. Als Hörer kam man nicht umhin, ständig am Ball zu bleiben; sich sozusagen zum Atmen zu zwingen, um die innere Spannung lösen zu können.
In dieser Konstellation aus Orchester und Dirigent zeigte sich, dass die langjährige Erfahrung mit der Musik Mahlers hier reife Früchte trug. Das Mahler oft zugeschriebenen, aber sinngemäß von Jean Jaurès stammende Motto, dass die Tradition die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche ist, wurde an diesem Abend vorzüglich mit Leben gefüllt. So waren die Schwierigkeiten des Erfassens des Werkgehalts mit dieser Interpretation zwar nicht beseitigt, aber doch so gelenkt wurden, dass die Symphonie mit diesem langen letzten Satz begeisterte, nicht überforderte.