Wien kann sich glücklich schätzen, mindestens drei große Symphonieorchester zu haben, die ihre Stadt im Namen tragen. Uwe Krusch besuchte ein Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien.
Der Begriff des Ein-Hit Komponisten wird einem bei Leonard Bernstein vielleicht nicht sofort einfallen. Aber viele verbinden mit seinem Namen das Musical West-Side-Story und kompositorisch sonst nichts. Der Fluch des Riesenerfolges dieses Werkes lenkt auch von seinen drei Symphonien ab. Umso verdienstvoller war deshalb, dass das Orchester und seine Chefin Marin Alsop die 1. Symphonie, Jeremiah, ans Ende des Programms gesetzt hatten. Wie die Schwesterwerke setzt es sich intensiv mit der Frage auseinander, wie der Mensch zu seinem Glauben steht, ihn verliert und auch wieder gewinnt. Dass in diesem sehr persönlichen Werk, dass Bernstein als junger Mensch schuf, seine eigenen religiösen Wurzeln und die jüdische Musik viel stärker ausgeprägt sind, als ihm selber vielleicht bewusst wer, ist deshalb kaum erstaunlich. Und dass die Anklänge an Musicaltöne in der Symphonie äußerst dezent sind, zeigt, dass Bernstein ein breit gefächertes Ausdrucksspektrum zu nutzen wusste und der jeweiligen Situation anpasste.
Für ein Orchester bietet so ein Stück eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich als Organismus im Ganzen und auch in solistischen Partien seine Mitglieder vorzustellen. Davon machte das ORF Ensemble reichlich Gebrauch. In allen Registern bestens besetzt, konnte es das Werk eindrucksvoll zeigen. Waren die Holzbläser anfangs noch ein wenig spröde im Klang angetreten, so legte sich dies umgehend. Marin Alsop wusste eine große Palette an Details aus dem Werk herauszuholen. Insbesondere verstand sie es im Zusammenspiel mit ihren Musikern, auch im groß besetzten Tutti noch eine Durchsichtigkeit zu wahren und das Geflecht zu zeigen und nicht nur einen lauten Brei abzuliefern.
Bernstein hat den 3. Satz dieser Symphonie mit Lamentation überschrieben und ihm poetische Worte aus dem Buch der Klagelieder des Jeremias beigegeben. Für diesen hebräischen Text wurde mit Rinat Shaham eine Mezzosopranistin gefunden, die dank ihrer Herkunft aus Haifa sprachlich beste Voraussetzungen mitbrachte. Diese weltweit in Oper und Konzert aktive Sängerin ließ schon in den ersten beiden Sätzen die Musik auf sich wirken, um so schon emotional vorbereitet in ihren Part einzusteigen. Sie zeigte dann mit dunkel temperierter Stimme die tiefe Bedeutung des Textes. Weitgehend sängerfreundlich instrumentiert, enthält die Symphonie auch Stellen, bei denen sie Volumen benötigte, um neben dem Orchester zu bestehen. Dabei gelang es ihr, die oratorienhafte Schlichtheit des Kontextes zu wahren und trotzdem die starken Ausdruckswelten des Leonard Bernstein zu zeigen.
Zu Beginn des Konzertes war die Musik für Streicher, Trompeten und Schlagwerk von Grazyna Bacewicz zu Gehör gekommen. Bei dieser polnisch-litauischen Komponisten kann man wohl bis heute sagen, dass sie nicht einmal ein Ein-Hit Komponist ist, so selten sind ihre Werke auf dem Spielplan zu finden. Fünf Trompeter waren stehend hinter den Streichern positioniert und konnten auch von dort ihren Part kraftvoll und charakterlich ausgefeilt vortragen. Der Streicherapparat hatte bei Bacewicz anspruchsvolle, auch dissonante Aufgaben zu lösen, was den Musikern mit Verve gelang. Das Schlagwerk bot seine Anteile vernehmlich eingebettet mit rhythmischer Präzision dar. Mit einer derart engagierten Interpretation setzte das ORF-Orchester auch bei diesem Werk eine deutliche Marke, sich mehr mit dieser Komponistin zu beschäftigen.
In die Mitte des zeitlich fast genau gedrittelten Programms gab es dann das wohl bekannteste Werk des Abends zu hören, das durch eine noch bekanntere Zugabe ergänzt wurde. Für das Solokonzert trat Maxim Vengerov als Geiger beim ersten Konzert von Sergei Prokofiev auf die Bühne. Mit seinem unprätentiösen Auftritt, allerdings ungewöhnlicher Bekleidung, lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Musik. Und das war gut so, konnte er doch mit atemberaubender Technik und auf alle Details achtender Gestaltung die musikalische Gestalt des Werkes zu einer großen Erzählung formen. Dabei wurde er von Marin Alsop unterstützt, die das Orchester zu einem aktiv mitgestaltenden Partner koordinierte und so die bei Prokofiev immer zu hörenden zahlreichen Farbschattierungen intensiv ausleuchtete.
Diese feine Darbietung wurde mit intensiven Beifallsbekundungen honoriert, so dass Solist und Orchester die gemeinsam vorbereitete Zugabe anboten, die Meditation aus Thais von Jules Massenet. Dabei gelang es den Beteiligten, eine opernhafte Interpretation zu gestalten, die aber nie auch nur in die Nähe gefühliger Übertreibung gelangte.