Hier singen keine erwachsenen Künstler nach jahrelanger Ausbildung, sondern tatsächlich Knaben und junge Männerstimmen, also Kinder und Jugendliche. Profis sind sie allemal, die Jungs vom Windsbacher Knabenchor, der jetzt seine dritte CD unter Martin Lehmann vorlegt. Erst vor drei Jahren debütierte der Künstlerische Leiter mit einer Weltersteinspielung von Polyphonie und venezianischer Mehrchörigkeit eines Johann Staden, gefolgt von Bachs Weihnachtsoratorium mit den Kantaten 4 bis 6. Nun entführt der vokale Klangkörper den Zuhörer gemeinsam mit dem Perkussionisten Simone Rubino in ungeahnt mystische Klangwelten. Der Tonträger von Sony vereint zwölf Chorwerke vom neunten Jahrhundert bis in die Gegenwart und spannt damit einen stilistisch weiten Bogen, der dank der klanglichen Bereicherung durch das Instrumentarium des Schlagwerkers weit über das üblicherweise eingespielte Chor-Repertoire hinausreicht.
Thema der CD Water & Spirit sind Wasser und Geist, Taufe, Gebet und christlicher Glaube – mithin die Botschaft, die sich der kirchlich getragene Knabenchor zu bezeugen auf die Fahnen geschrieben hat. Das geschieht glaubhaft, weil unglaublich packend: Geheimnisvoll und wie aus dem Nichts erhebt sich die Motette ‘Nun bitten wir den heiligen Geist’ von Johann Walter (1496-1570), was gleich zu Beginn den Titel aufgreift. Schillernd untermalt Rubino den clustergleichen Gesang, wodurch Altes ganz neu anmutet. Sicher schreiten die einzelnen Register dabei durch die Fünfstimmigkeit und doch wirkt alles nicht routiniert und einstudiert, sondern neugierig und entdeckend – man verliert sich schier in diesem Klang.
Simone Rubino steuert auf dieser CD vier Solostücke bei: drei Solokadenzen des chinesischen Komponisten Tan Dun (*1957) und eine eigene Komposition (Born of Water and Spirit), zu der er auch selbst singt. Fehlten einem auf seiner solistischen Debüt-CD Immortal Bach (2017) letztendlich visuelle Anknüpfungspunkte, wirken die abstrakten Klänge des Schlagwerks hier wie funkelnde Kosmen. Der perkussive Akt lässt Raum zum Nachsinnen über die gehörten Texte, bezieht sich durch Nutzung des flüssigen Elements direkt auf den Titel Water & Spirit und lässt die faszinierenden Schwingungen fast schon körperlich hörbar werden.
Jedes Stück hat seine Eigenheiten, mal hört man den Windsbacher Knabenchor ohne, mal mit Instrumentalbegleitung, die sich jedoch nie aufdrängt, sondern durch ihre ganz eigenen Bewegungen dem vokalen Ton eine weitere Farbe hinzufügt. Beispielhaft gelingt das in Bachs Motette Der Geist hilft unser Schwachheit auf’, in der Rubino den Continuo-Part übernimmt: Ganz dem Motto Water & Spirit verpflichtet scheint sein Spiel zu tropfen und zu glucksen, der chorische Melodiefluss spiegelt sich darin wie in klarem Wasser.
Was dieser Knabenchor zustande bringt, macht ihm so schnell keiner nach: Spätromantisches Schwelgen in Motetten von Josef Renner oder Albert Becker, ein wunderbares ‘Schaffe in mir Gott’ von Brahms – seit Martin Lehmann den Chor dirigiert, ist eine unaufgeregte Gelassenheit ein weiteres Markenzeichen, das die ohnehin schon über jeden Zweifel erhabene Symbiose aus transparenter Homogenität, Intonation, Diktion und natürlicher Klangschönheit bereichert. Auch der kraftvolle Ton der Männerstimmen ist nach wie vor bezaubernd: Die Gregorianik eines Rabanus Maurus und der Psalm ‘In Deine Hände, befehle ich meinen Geist’ aus der eigens für die Windsbacher komponierten Sammlung von Emanuel Vogt beschenken einen reich, der hier hinzugefügte Trommelschlag klingt passend pulsierend.
Er ertönt auch in der Schütz-Motette ‘Selig sind die Toten’ und erinnert gespenstisch an das Entstehungsjahr der Geistlichen Chormusik 1648 am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Water & Spirit hat bewusst und unbewusst auch Elemente des Musiktheaters. Das anschließende Tenebrae Factae Sunt von Francis Poulenc mit packender Dynamik und elegantem Spiel mit der Dissonanz wie am Schluss Regers Nachtlied erklimmen gar den Rang der Referenzeinspielung. Dieser Chor bewegt sich in allen Epochen mit einer selbstverständlichen musikalischen wie musikantischen Stilsicherheit, die ihresgleichen sucht.