Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?
Im Moment findet quasi kein Konzertleben statt. Ich habe auch noch keine Streaming-Konzerte gemacht, jedoch konzentriere ich mich auf meine pädagogische Arbeit am Vorarlberger Landeskonservatorium. Trotzdem hoffe ich sehr, dass es bald wieder Live-Erlebnisse geben wird. Auf jeden Fall zeigt die aktuelle Situation, wie gut es ist, mehrere Standbeine zu haben.
Da ist doch so ein CD-Projekt die optimale Beschäftigung
Genau – das machen auch viele im Moment. Es gibt ja zurzeit nur wenige Alternativen. Für mich war diese erste Solo CD eine neue Erfahrung. Ich habe vorher schon einzelne Stücke aufgenommen. Aber diese Produktion ist nun quasi meine Visitenkarte.
Erzählen Sie mir etwas zur Vorgeschichte dieser Produktion
Brahms’ Klavierstücke waren bereits in meiner Jugend eine Traumwelt für mich und haben mich damals schon emotional berührt. Nun habe ich sie für meine Debut-CD ausgewählt. Meine Überlegung war, dass es nicht so viele Gesamteinspielungen der späten Klavierwerke von Brahms gibt – auf jeden Fall längst nicht so viele wie etwa von den Balladen oder Scherzi von Chopin oder den Beethoven-Sonaten. Als 15-Jähriger habe ich die Aufnahmen von Wilhelm Kempff und Julius Katchen der Klavierstücke op. 116-119 gehört und war sowohl von den Kompositionen als auch von den Interpretationen begeistert. Diese Begeisterung spüre ich heute noch, wenn ich mir diese Einspielungen anhöre.
Wie haben Sie sich die Musik erschlossen?
Eine wichtige Inspirationsquelle für meine Interpretation war eine Anekdote einer Schülerin von Clara Schumann, Ilona Eibenschütz. Im österreichischen Bad Ischl, wo die Stücke entstanden sind, hörte sie von Brahms persönlich seine Zyklen op. 118 und 119. Sie beschreibt in ihren Erinnerungen sein Klavierspiel als « sehr freizügig, quasi improvisatorisch – mit Herz und Seele.“ Diese Herangehensweise, die mich ohnehin sehr anspricht, hat mich besonders inspiriert. Bei größter Sorgfalt des Notentextes habe ich versucht, bei meinen Aufnahmen die Balance zwischen Texttreue und künstlerischer Freiheit zu finden.
Ich empfinde es als wichtig, dass die einstudierten Werke auf der Bühne spontan wirken. Selbstverständlich entwickle ich beim Üben klare musikalische Vorstellungen was die Phrasierung oder den Klang betrifft. Dennoch experimentiere ich gerne – ändere als Übung bewusst den Melodieverlauf oder spiele andere Harmonien – eine Art von Improvisation, um die Absichten des Komponisten besser zu verstehen. Gerne hinterfrage ich auch verschiedene Formen von Rubato. Gerade als Pianist hilft mir die flexible Art und Weise des Übens enorm, da ich mich besser auf unterschiedliche Instrumente und Raumakustik einstellen kann. Wir wissen, dass Bach, Scarlatti, Mozart und Beethoven hervorragende Improvisatoren waren. Ich glaube, wir würden heute anders und nicht so verkopft an die Materie herangehen, wenn wir im Stile der genannten Komponisten improvisieren würden und könnten.
Finden Sie, dass dies in der klassischen Ausbildung vernachlässigt wird?
Es gibt an der Hochschule zahlreiche Fächer, die man belegen muss und das Üben braucht auch viel Zeit. Arcadi Volodos hat mal gesagt, am besten wäre es, wenn man im Stil von Rachmaninov improvisieren könnte um seine Musik besser verstehen zu können. Es ist, wie wenn man eine Sprache lernt. Es geht nicht nur darum, den Text auswendig zu lernen, sondern darum, mit der Sprache gewandt zu sein. Wer das tut, kann viel freizügiger reden.
Wie haben Sie die Aufnahme dieser CD erlebt?
Ich habe die CD im Markus-Sittikus-Saal in Hohenems aufgenommen – dort, wo die Schubertiade in Vorarlberg stattfindet. Die Schubertiade gibt es schon seit den 1970er Jahren. Hier konzertiert die Elite der klassischen Musikszene. Mit seiner fantastischen Akustik ist dieser Saal seit Jahrzehnten ein beliebter Aufnahmeort für Künstler. Es ist fast schon ein Luxus, dass ich nicht weit weg von diesem Ort wohne. Ich habe hier übrigens auch den Tonmeister Markus Brändle kennengelernt, mit dem ich zusammen die Aufnahme gemacht habe. Und Markus Brändle stellte dann den Kontakt zum Ars-Label her.
Hatten Sie einen großen Erwartungsdruck, wo es jetzt um das Solo-Debut auf CD ging?
Ja, der Druck war schon deutlich spürbar. Schnell kommt das Gefühl auf, dass jeder aufgenommene Ton fürs ganze Leben da steht. Ich bin oft sehr selbstkritisch und musikalisch nicht ganz zufrieden, da ich mehr erwarte als die richtigen Töne zu spielen. Und es war ein sehr herausforderndes Repertoire mit 20 Stücken zu stemmen. Die ersten 8 davon hatte ich bereits gespielt, die anderen habe ich mir dann für dieses Projekt neu erarbeitet.
Markiert das Spätwerk von Brahms eine neue musikalische Erfahrung für Sie? Sie haben vorher ja sehr virtuose Stücke gespielt. Im Gegensatz dazu gestalten Sie die Brahmsschen Klavierstücke wie kleine, empfindsame Psychodramen. Ist das eine Art Paradigmenwechsel für Sie?
Ich habe die Virtuosität nie als Selbstzweck angesehen, denn sie ist immer im Dienste der musikalischen Aussage zu betrachten. Technik ist ein sehr komplexer Begriff und sollte vom musikalischen Gehalt nicht abgegrenzt werden. Jedes Stück verlangt eine bestimmte Art von Technik, damit meine ich den Anschlag, die Klangfarbe, den Stil und nicht nur die Brillanz und Geläufigkeit der Finger. Wenn ich diese Aspekte nicht berücksichtige, würde ich die Technik nur sehr begrenzt sehen und nicht im Gesamten. Jeder Komponist hat seine spezifischen Schwierigkeiten. Bei Brahms ist vor allem die klangliche Komponente außerordentlich tiefgreifend und komplex. Bei anderen Werken, die ich vorher angegangen bin, lag die Herausforderung woanders: Ravels Gaspard de la Nuit ist zum Beispiel ein technisch extrem schwieriges Stück. Da ist man schon froh, wenn man alle Töne trifft. (lacht) Ganz salopp gesagt, ist damit schon 80% der Arbeit erledigt. Nicht falsch verstehen! Ich wollte damit Ravel nicht banalisieren. Ich würde fast behaupten, dass sich die Musik von alleine ergibt, wenn man den peniblen Anweisungen des Komponisten folgt und ein gutes Gespür für die impressionistische Klangwelt hat. Ich hatte einen riesigen Spaß mit dem Stück. Bei Brahms ist das ein komplexerer Prozess, fast schon philosophisch würde ich sagen. Es braucht viel länger bis sich daraus eine schlüssige Interpretation ergibt.
Was reizt Sie überhaupt an dem Spätwerk von Brahms? Sie spielen diese Musik so, dass weniger das Erbe von Beethoven mitschwingt, sondern ein Vorausblick auf Schönberg wichtiger scheint…
Die Stücke haben viel Impressionistisches an sich. Die Idee ist, aus dem Moment heraus alles zu sagen. Diesen Zugang spüre ich vor allem bei den Intermezzi. Mit den nötigen Klangfarben erreicht man fast etwas Ätherisches. Mit Brahms verbindet man oft eine große Philosophie. Dabei geht die ‘Einfachheit’ manchmal verloren, sodass die Musik schnell zu verkopft klingt.
Die Musik widerspiegelt einen reifen Lebensabschnitt bei Brahms. Sie sind ein junger Interpret, der den Großteil seiner künstlerischen Vita noch vor sich hat. Wie hat diese Musik Sie gefunden?
Wie gesagt hat mich diese Musik schon angesprochen als ich 15 Jahre alt war. Meine Gefühlswelt und eigenen Erfahrungen ließen sich mit der Musik verknüpfen. Über die Jahre verändern sich dann die Gefühle und verbinden sich immer wieder neu mit der Musik.
Spielen Sie Brahms heute anders, als Sie ihn damals gehört haben?
Definitiv. Ich würde die Stücke auch drei Wochen später anders spielen. Eben, weil ich nicht alles hundertprozentig festlegen möchte. Natürlich plant man beim Üben viel und legt bestimmte Sachen fest, aber das Resultat ist doch viel mehr vom Moment abhängig. Auch weil es bei einem Pianisten immer von dem Instrument und den sonstigen Rahmenbedingungen abhängt. Zugleich variiert meine Empfindung – auch das ist mir wichtig. Mal finde ich mich mittendrin in der Geschichte der Musik und am nächsten Tag bin ich dann doch wieder mehr der Erzähler von außen und weniger die handelnde Person. Diese Offenheit und Flexibilität möchte ich stets bewahren.
Sie sind ja auch Lehrender am Konservatorium in Vorarlberg. Setzen Sie diese Philosophie auch in Ihrem Unterricht um?
Auf jeden Fall. Das ist mir ganz besonders wichtig. Es geht nicht nur darum, zu analysieren und den Text wiederzugeben und sich mit den Tönen zufrieden zu geben. Als Pädagoge liegt mir besonders am Herzen, dass Schüler*innen und Studierende selbst Interpretationsansätze entwickeln. Dabei ist diese Herangehensweise, jedenfalls sehe ich das so, eine gute Methode, den musikalischen Horizont zu öffnen.
Yunus Kaya überzeugt mit persönlichen Brahms-Interpretationen