Am vergangenen Wochenende ging mit ‚Zermatt Music Festival & Academy‘ eine der renommiertesten Veranstaltungsreihen in der Alpenregion zu Ende. Entlang von rund 25 Konzerten in 10 Tagen präsentierten sich in der 19. Ausgabe neben Composer-in-Residence David Philip Hefti u.a. Sopranistin Christiane Karg, das Berliner Scharoun-Ensemble und hochbegabte Nachwuchsmusiker aus aller Welt. Im Gespräch mit Pizzicato blickt Musikpublizist und ICMA-Jury-Mitglied Martin Hoffmeister auf das Festival zurück.
Herr Hoffmeister, die Alpenregion hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend zum Klassik-Hotspot entwickelt. Insbesondere die Schweiz reüssiert mit einem weiten Spektrum kuratierter Angebote, mit einer vielgesichtigen Festival-Landschaft. Wie fügt sich das Zermatt-Festival in dieses Tableau ?
Der künstlerische Fokus unterscheidet sich deutlich von anderen Reihen im Land wie beispielsweise denen in Luzern, Verbier oder Gstaad. Denn Zermatt stellt die Arbeit mit hochtalentierten Nachwuchsmusikern ins Zentrum. Jährlich versammelt entsprechend die künstlerische Leitung des Festivals rund 40 junge Musiker in einer eigens gegründeten Akademie, die seit Beginn vom renommierten Berliner Scharoun-Ensemble betreut wird. Die Akademieleitung und die Mitglieder der Formation wählen aus mehreren hundert Bewerbungen aus aller Welt aus und schaffen auf diese Weise die personelle Grundlage für das Festivalgeschehen. Die Akademisten und das Scharoun-Ensemble stellen gemeinsam das Zermatt-Festival-Orchestra und bilden überdies in unterschiedlichen Konstellationen diverse Kammermusik-Formationen. Hinzu kommen gegebenenfalls Dirigenten, Gastsolisten und/oder ein Composer in Residence, wie in diesem Jahr der Schweizer David Philip Hefti.
Sie sprachen die eminente Anzahl von Bewerbungen für die Akademie an. Was macht die Akademie für den Nachwuchs so attraktiv?
Es kommen mehrere Dinge zusammen. Von entscheidender Bedeutung dürfte natürlich die intensive Arbeit mit dem Scharoun-Ensemble sein. Dessen Mitglieder rekrutieren sich mit wenigen Ausnahmen aus Musikern der ‚Berliner Philharmoniker‘, was bedeutet, dass im Unterricht neben Unterweisung im Kammermusik-Segment auch Aspekte der Orchesterarbeit zum Tragen kommen. Aber Scharoun präsentiert sich eben nicht nur im Unterricht als erste Adresse, sondern die Ensemblemitglieder nehmen außerdem ein durch Leidenschaft und Emphase für ihre Aufgaben, so dass am Ende des Festivals die Akademisten neben reicher Spielerfahrung auch zahllose Erkenntnisse und Ratschläge mit nach Hause nehmen können. Das zum einen. Zum anderen bietet der Ski- und Wanderort am Fuße des legendären Matterhorns idealtypische Arbeitsbedingungen, weil man versorgt und nicht abgelenkt ist, und der spezifische Landschaftskosmos extreme Suggestivkräfte freisetzt. Die Korrespondenz von Musik und Natur inspiriert in solitärer Weise.
Das Scharoun-Ensemble, diese auf jeder Position hochkarätig besetzte Formation, feiert in diesem Jahr ihr 40-jähriges Bestehen. Was hält die Musiker zusammen, wofür stehen sie?
Die spezifische Gruppendynamik, das tiefe gegenseitige Verständnis und Vertrauen, Offenheit und die enorme spieltechnische Expertise bilden die Basis für alles Weitere. Die künstlerische Identität des Ensembles baut nach wie vor auf dem Engagement für zeitgenössische Musik. Man arbeitete über die Jahrzehnte mit bedeutenden Komponisten wie Ligeti, Henze, Kurtag, Boulez, Rihm, Widman oder – in diesem Jahr – David Philip Hefti und vergab entsprechend Auftragswerke. Demgegenüber widmeten sich die Musiker ebenso den tradierten Werketableaus aus Klassik und Romantik. Besonders eindrücklich, wenn man das Schaffen des Ensembles in den Blick nimmt: Dessen Konzentration auf das Wesentliche, die Kunst. Dezenz und Demut waren schon immer die besten Ratgeber fürs Überleben. Auch vor diesem Hintergrund ist die Formation unverzichtbar für die globale Kammermusikszene und das Zermatt-Festival mit seiner spezifischen Ausrichtung.
Die Akademie-Aktivitäten der Reihe wurden bereits erwähnt. Was unterscheidet das Festival außerdem von anderen seiner Größe?
Tatsächlich sind es ja nicht selten die kleinen Festivals, die mit frischen Ideen, unkonventionellen Spielstätten und avancierter Programmatik aufzuwarten wissen, die auch Risiken nicht aus dem Weg gehen. In Zermatt wird kein Repertoire-Einerlei präsentiert und schon gar kein Star-Rummel betrieben. Große Namen sind und waren in Zermatt niemals Selbstzweck. Bereits in den 50er und 60er Jahren vergangenen Jahrhunderts hatten Cellisten-Legende Pablo Casals und Künstler-Freunde wie Yehudi Menuhin, Clara Haskil oder Sandor Vegh das Bergdorf für die Klassik entdeckt und Meisterkurse und Konzerte organisiert. So gesehen setzte man mit der Festival-und Akademiegründung im Jahr 2005, als entsprechende Sponsoren gefunden wurden und Bürgerschaft und Hotellerie Interesse signalisierten, eine erfolgreiche Tradition fort.
Wer finanziert das Festival?
Die Reihe wird weitgehend von Stiftungsgeldern getragen, signifikante Unterstützung erfährt man zudem von 25 Hotel-Partnern und der Gemeinde Zermatt. Nur zwei Prozent des Gesamtetats werden durch Ticket-Verkäufe generiert. Die Preise hält man bewusst niedrig, um einem möglichst breiten Publikumskreis den Konzert-Besuch zu ermöglichen.
Ein Festival bewegt das Publikum nicht nur durch einzigartige künstlerische Erlebnisse und eindrucksvolle Musikerpersönlichkeiten, sondern auch durch einen spezifischen Genius loci und eine zugewandte Gesamtatmosphäre. Wie darf man sich die atmosphärische Mixture beim Zermatt-Festival vorstellen?
« Zugewandt“ ist gewiss das angemessene Adjektiv, um das Festival zu beschreiben. Denn Festival-Personal und die Musiker aus aller Welt, Profis und Nachwuchs, ließen gemeinsam eine grenzenlose Energie und Emphase erkennen für das Sujet. Man wollte entlang dieser Reihe reüssieren, man wollte das Publikum auf seine Seite ziehen. Entsprechend gelöst präsentierte sich beim Festival die Gastfreundschaft, die Musiker fanden zu höchsten künstlerischen und spieltechnischen Niveaus. Gekoppelt das Ganze an die Magie, die ausgeht von dieser verdichteten Erfahrung von Kunst, künstlerischer Intensität und eindrücklicher Landschaft.
Blicken wir auf einzelne, exemplarische Konzerte des Festivals, die die Idee der Reihe spiegelten…
Als besonders originär nimmt man jeweils die Programmatik der einzelnen Konzerte wahr. Da stehen zumeist selten aufgeführte oder unbekannte Werke, neben Kanonischem, da treffen Komponisten aufeinander, die man so niemals in Nachbarschaft zu hören bekommt. Mozart etwa neben Stefan Wolpe, Martinu, Bartok und Brahms; Boccherini neben David Philip Hefti, Hans Eisler und Mendelssohn oder Bach an der Seite von Berg, Schubert und Hefti. Da Kammermusik ein Zentrum des Festivals bildet und möglichst sämtlichen Akademie-Musikern das Feld bereitet werden soll, standen ebenfalls einige Bearbeitungen für kleinere Formationen auf der Agenda. Am Ende fügte sich selbst Heterogenes zu dramaturgisch sinnfälliger Einheit.
Als Composer-in-Residenz fungierte im aktuellen Jahrgang der Basler David Philip Hefti, hochdekoriert mit dem Komponistenpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung und dem Composer Award der International Classical Music Awards…
…der Komponist, Jahrgang 1975, Schüler von u.a. Wolfgang Rihm und Christoball Halfter, zeichnet bereits für über 100 Werke verantwortlich, für ein Werketableau, das sich über fast sämtliche Gattungen hinweg erstreckt. Fünf seiner Werke kamen in Zermatt zur Aufführung, darunter die Uraufführung eines vom Scharoun-Ensemble beauftragten Werkes zu dessen 40jährigem Jubiläum, das Oktett ‘Des Zaubers Spuren’. Überdies das Holzbläser-Quintett Gallicinium ‘Musik zur vierten Nachtwache’, ‘Monumentum’ für Streichquartett und das 6. Streichquartett ‘Fünf Szenen für Gustav’. Was sämtliche dieser Werke verbindet, ist Heftis komplexe Formensprache, seine Kolorierungskunst und das Vermögen, eine ureigene Klangsprache zu setzen, die sich jenseits von Beliebigkeit, avantgardistischer Zuspitzung, aber auch kanonischen Mainstreams bewegt. Nicht selten oszillieren Heftis Tableaus zwischen unterschiedlichen oder konträren Ansätzen, finden jedoch stets zu präziser Faktur. Besonders eindrücklich vor diesem Hintergrund auch Heftis Bearbeitung von Mahlers „Rückert-Lieder“ für Stimme und Streichquartett.
Das Festival geprägt also von größtmöglicher programmatischer Vielfalt, aber auch vom steten Wechsel der Besetzungen. Sollte, kann man auf Grund des spezifischen Festival-Konzeptes von künstlerischen Höhepunkten sprechen?
Grundsätzlich würde ich eher von einer vorzüglichen Kollektivleistung aller Mitwirkenden sprechen, was auch bedeutet: Der Höhepunkt ist das Festival als Ganzes. Zu erwähnen seien dennoch die drei Konzerte mit Sopranistin Christiane Karg, bei denen die 7 frühen Liedern von Alban Berg, Berlioz‘ Nuits d’été und besagte Bearbeitung von Mahlers Rückert-Liedern zur Aufführung kamen. Kargs stets kontrollierte, dennoch bewegliche, von natürlichen Bögen getragenen Kunst setzt künstlerische Ausrufezeichen. Ein Mehr an klanglicher Luzidität und Transparenz, an unbedingtem Gestaltungswillen und fein schattierter Kolorierung ist kaum vorstellbar. Solche Abende sind ein Geschenk!