Herr Jansons, Sie sind zurzeit Chefdirigent von zwei renommierten europäischen Orchestern, dem Concertgebouw Orkest und dem Symphonieorchester des bayerischen Rundfunks. Wo liegen für Sie die Unterschiede und Stärken beider Ensembles?
Für eine tiefgehende Analyse ist es für mich noch zu früh. Aber mit dem Concertgebouw arbeite ich bereits seit 20 Jahren als Gastdirigent. Dieses Orchester besitzt einen sehr raffinierten Klang und eine ungeheure Transparenz. Das hat sehr viel mit seiner Tradition und dem Repertoire zu tun.Das Concertgebouw ist ein Mahler-Orchester, spielt aber auch sehr viel französische Musik. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist ein echtes deutsches Orchester, aber das im guten Sinne, ein Orchester mit einem wunderbar dunklen und vollen Klang, der hervorragend zu Brahms, Beethoven und Richard Strauss passt. Bei der Entwicklung eines Orchesters spielt der Saal eine sehr wichtige Rolle. In Amsterdam haben wir das Concertgebouw, einen der besten Konzertsäle der Welt. Leider hat das bayerische Orchester keinen festen Saal und muss permanent wechseln. Das ist ein sehr großer Nachteil!
Werden Sie mit jedem der Orchester ein unterschiedliches Repertoire erarbeiten?
Ich werde mit beiden Orchestern ein breites Repertoire machen. Ich muss als Chefdirigent auch die Werke spielen, die dem Orchester wichtig sind. Es geht hier nicht nur um meine Vorstellungen. Wenn man in Amsterdam mit mir Mahler spielen will und in München auch, habe ich damit kein Problem. Wenn man das Glück hat, Chefdirigent bei zwei solch großartigen Orchestern zu sein, dann muss man den Orchestern dienen und sie nicht repertoiremäßig gegeneinander ausspielen. Das ist nicht gesund.
Zwei Dirigenten haben Sie sehr beeinflusst. Der eine war ihr Vater Arvid Jansons, der andere Evgeny Mravinsky.
Mein Vater hat mich eigentlich auf eine sehr natürliche Weise beeinflusst. Ich bin in einer Musikerfamilie aufgewachsen, meine Mutter war Opernsängerin, und habe schon als sehr kleines Kind Opernvorstellungen mit meinem Vater gehört. Ich glaube, mit drei Jahren war ich zum ersten Mal in einem Opernhaus. Meine Eltern haben mich immer mitgebracht, weil sie keinen Babysitter hatten und so habe ich das ganze Repertoire nach und nach kennen gelernt. Als ich dann älter war, habe ich die Proben und Konzerte meines Vaters besucht. Und wenn Sie in einer Musikerfamilie aufwachsen, haben Sie natürlich permanent Kontakt mit anderen Künstlern und Musikern. Ich hatte das Glück, viele gute Lehrer zu haben und war viele Jahre lang der Assistent von Mravinsky gewesen. Mravinsky war ein großartiger Musiker und diese Jahre als Assistent im damaligen Leningrad waren für mich sehr prägend. Ich hatte danach das große Glück in Wien und bei Karajan studieren zu können, eine Zeit, die mir unendlich viel gegeben hat.
Wenn man Ihre Konzerte, besonders Tourneekonzerte, über Jahre hinweg besucht, fällt einem auf, dass drei Komponisten immer wieder in den Programmen auftreten: Dmitri Shostakovich, Gustav Mahler und Richard Strauss.
Ich liebe alle drei, aber Shostakovich ist mein Lieblingskomponist. Ich fühle mich seiner Musik innerlich sehr verbunden und ich kann ohne sie nicht leben. Und Mahler gehört zu Amsterdam, Strauss zu München. Sie sehen, irgendwie schließt sich der Kreis wieder. Und es ist ja nichts Schlimmes dabei.
Wenn Sie ein bestimmtes Werk mit verschiedenen Orchestern machen, adaptieren Sie Ihre Interpretation auch am Klang und Stil des Orchesters?
Nein, ich orientiere meine Interpretation nicht bewusst am Klang eines Orchesters. Meine Interpretation kann sich im Laufe der Arbeit mit den Musikern aber ändern, aber nie wesentlich. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht gut, wenn ich versuche, den spezifischen Klang eines Orchesters meiner Interpretation zu unterwerfen. Ich glaube, als Dirigent habe ich die Individualität eines Orchesters zu respektieren, so wie die Musiker meine Sicht auf das Werk zu respektieren haben. Ich lerne aber auch sehr viel über die Art und Weise, wie ein Orchester ‘meine’ Interpretation in ‘seinen’ Klang umsetzt. Wichtig ist einzig und allein, dass ein Orchester mit Engagement spielt, und nicht nur die Noten, sondern den gesamten musikalischen Gehalt, die Atmosphäre, die das Werk verlangt, zu Gehör bringt.
Vor einigen Jahren gastierten Sie in Luzern mit dem ‘Oslo Philharmonic Orchestra’ und auf eines der Reklameplakate hatte jemand aus dem Orchester mit großen Buchstaben geschrieben: “Mariss, the Orchestra loves you.” Meine Frage: Welches Verhältnis sollte ein Dirigent zu seinem Orchester haben?
Die Beziehung zwischen einem Dirigenten und einem Orchester ist ungemein wichtig. Aber was ist eine gute Beziehung? Ich glaube, ganz wichtig ist der gegenseitige Respekt. Dann erst ist es möglich, gemeinsam eine Interpretation auszuarbeiten und einen gemeinsamen musikalischen Weg zu finden. Musik, Musikmachen hat sehr viel mit Menschlichkeit zu tun. Und die muss am Beginn einer Beziehung stehen. Eigentlich ist es so wie im normalen Leben. Wenn Ihre Beziehungen gut sind, wenn Sie Freunde haben und Ihre Begegnungen positiv verlaufen, dann wirkt sich das ja auch auf Ihre Stimmung aus. Sie sind dann ein glücklicher Mensch und bestimmt viel zufriedener, als wenn Sie mit jedem Streit haben oder in Konflikt sind. Wir sind menschliche Wesen und eben sehr empfindlich auf dieser Ebene. Und bei Musikern und Künstlern ist diese Empfindlichkeit oft noch stärker ausgeprägt. Wenn Sie also oft mit einem Orchester arbeiten, und als Chefdirigent tut man ja das, ist eine gute Beziehung enorm wichtig. Mit positiver Energie erreicht man weit mehr als mit diktatorischer Haltung. Und letztendlich profitiert die Musik davon, denn Musik definiert sich nun einmal durch ihre Emotionalität. Aber Achtung! Als Dirigent muss ich meine Autorität behalten. Die Musiker sind zwar meine Partner, aber ich bin nun einmal gewählt, das Ensemble zu führen, zu leiten. Autorität hat aber nichts mit Diktatur zu tun.
Wo wir jetzt bei der Diktatur sind. Wie weit übt das frühere sowjetische Regime heute noch Einfluss auf den Künstler Mariss Jansons aus?
Für mich als Betroffenen ist es natürlich sehr schwierig, darauf eine korrekte Antwort zu geben. Wahrscheinlich gibt es da noch viel Unverarbeitetes, das tief drinnen und unbewusst in mir festsitzt und das sicherlich von dort aus gewisse Einflüsse auf mich und mein Handeln, mein Fühlen hat. Unbewusst! Es ist mir aber klar, dass man die Zeit von damals nicht einfach durch eine andere ersetzen kann, und all das, was früher in der Sowjetunion passiert ist, wird noch lange in uns bleiben.
Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich gehöre nicht zu den Leuten, die alles von damals kritisieren und verdammen. Es gab auch viel Gutes. Besonders im Bereich der Kunst. Die Ausbildung war phantastisch, wahrscheinlich die beste Ausbildung in der ganzen Welt. Die Unterstützung war sehr gut, obwohl alles sehr streng kontrolliert wurde. Das künstlerische Niveau war sehr hoch. Ich hatte das Glück, von diesen positiven Einflüssen zu profitieren. Auch das ist in mir und ich will das gar nicht wegdenken. Und man muss auch sagen, dass dieses hohe Niveau in Russland heute weitgehend verschwunden ist.
Sie gingen mit drei Jahren zum ersten Mal in die Oper. Wie steht es eigentlich um den Operndirigenten Mariss Jansons?
Oh, da berühren Sie ein ganz heikles Thema. Wissen Sie, ich liebe Oper über alles, aber mein Leben und meine Karriere haben sich so entwickelt, dass ich nie Zeit gefunden habe, mich der Oper intensiv zu widmen. Ich habe in der Vergangenheit zwar Oper dirigiert, aber meine Tätigkeit als Chefdirigent zweier Orchester ließ und lässt es leider nicht zu. Ich habe immer versucht und versucht, mir die Zeit zu stehlen, aber es ist mir letztendlich nie gelungen. Aber als es dann endlich mein Terminplan nach jahrelanger Planung zuließ, habe ich einen Herzinfarkt bekommen, der all diese Projekte zunichte gemacht hat. Das Leben hat immer irgendwie anders entschieden, ich weiß auch nicht warum.
(Interview von 2017)
Als Sie 1997 Chefdirigent des Pittsburgh Symphony Orchestra wurden, hatte Sie gerade erst das Oslo Philharmonic Orchestra in harter Aufbauarbeit zu einem internationalen Spitzenensemble gemacht. Wie war es damals für Sie, den Chefposten bei einem so renommierten und guteingespielten amerikanischen Orchester zu übernehmen?
Dieser Posten war damals sehr wichtig für mich, vor allem, für meine eigene Bildung. Bis dahin kannte ich die Orchester der osteuropäischen Länder, insbesondere die Russlands und jene aus Europa sehr gut. Sowohl die russischen wie auch die europäischen Orchester haben ihre Eigenarten und sind eigentlich in der Art, wie sie spielen, sehr verschieden. Genauso wie die amerikanischen Orchester, die wiederum einen ganz anderen Spielstil haben. Deshalb war der Posten in Pittsburgh ungemein reizvoll für mich, so lernte ich die drei großen Welten des Muszierens kennen.
Worin bestehen denn beispielsweise die Unterschiede zwischen einem amerikanischen, einem russischen und einem europäischen Orchester?
Es ist eine Sache der Beziehung zur Musik und demnach natürlich eine Sache der musikalischen Interpretation. Amerikanische Orchester gehen ganz anders an die Musik heran, mehr von der spieltechnischen Seite her und weniger vom Gefühl.
Pittsburgh kam kurz nach ihrem lebensbedrohlichen Herzinfarkt im Jahre 1996. Geht man nach so einem Vorfall anders an die Arbeit heran?
Natürlich! Ich wurde viel vorsichtiger. Wenn man weiß, wie schnell einen die Gesundheit im Stich lassen kann, dann ist man quasi gezwungen, ganz andere Wege zu gehen. Aber solch eine lebensbedrohliche Situation hat mich auch persönlich verändert, in meinem Denken und in dem, wie ich die Musik fühle. Es war eine Zeit der Bilanz und der Analysen. Man hat plötzlich die Fähigkeit, tiefer in die Musik einzudringen und das Wesentliche schneller zu erfassen. In diesem Sinne war ein Neuanfang in Pittsburgh schon ein einschneidendes Erlebnis. Mit einem neuen Orchester, einem neuen Spielstil und einem neuen Gefühl für die Musik begann für mich auch ein neue musikalischer Lebensabschnitt.
Woran denken während Ihrer Pittsburgher Zeit besonders gerne zurück?
Vor allem an das Orchester selbst. Das waren alles so nette Musiker, enorm intelligent und doch ganz einfach im Umgang. In Pittsburgh begegnete ich auch außerhalb des Orchesters vielen engagierten Menschen, die das Orchester unterstützten und ihm persönlich auch sehr verbunden waren. Auch die Gönner und Sponsoren fühlten sich als ein Teil von ihm. Dieses Herzblut findet man beispielsweise in Europa viel weniger. Eigentlich sind mir Einzelkonzerte nicht so im Gedächtnis geblieben, aber die erste Europatournee mit Stationen in Wien und bei den Salzburger Festspielen war für mich eine unvergessliche Erfahrung.
Es gab und gibt Chefdirigenten, die sehr lange bei einem Orchester bleiben. In Pittsburgh war das William Steinberg, der immerhin 24 Jahre lang Chef des PSO war. Wie lange, glauben Sie, soll ein Chefdirigent bleiben?
Das ist ziemlich schwierig zu beantworten, denn jeder Dirigent hat andere Grenzen, andere Visionen andere Vorstellungen. Lorin Maazel hatte für sich festgestellt, dass er nicht mehr als 10 Jahre bei einem Orchester bleiben wollte. Danach würde die musikalische Qualität leiden. Früher war es üblich, sehr lange bei einem Orchester zu bleiben, denken Sie nur an William Steinberg in Pittsburgh, an Frederic Stock und Georg Solti in Chicago oder an Karajan in Berlin. Steinberg blieb 25 Jahre, Stock 37 und Solti 22 Jahre, Karajan 35 Jahre. Das ist heute fast undenkbar. Damals war eine andere Zeit und es gab weniger Möglichkeiten zu Reisen. Auch für das Publikum. So kommt es, dass sich auch die Hörgewohnheiten geändert haben. Früher hörte man hauptsächlich sein Stadt-Orchester, heute geben sich die großen Orchester überall die Klinke in die Hand. Heute ist das musikalische Leben intensiver und schneller, dadurch wird die Aufmerksamkeit kürzer. In dieser Optik müssen Orchester auch Abwechslung bringen, und ein neuer Dirigent bringt nun einmal frischen Wind und ein neues Repertoire. Ich glaube, es gibt eine wichtige Regel. Jeder Dirigent muss selber spüren, ob die Musik, die er mit dem Orchester macht, für ihn noch stimmt. Wenn er aber merkt, dass die Routine größer und größer wird, dann ist es Zeit zu gehen. Nach dem Motto: « Aufhören, wenn es am schönsten ist.“ Die Zehn-Jahresgrenze ist anscheinend sogar wissenschaftlich belegt.
Ihre Vorgänger in Pittsburgh waren André Previn und Lorin Maazel. Wie haben Sie sich repertoiremäßig abgegrenzt, resp. welche Programme wollten sie mit den Musikern erarbeiten.
Wissen Sie, ein neues Repertoire ist nicht unbedingt vorrangig, obwohl viele das meinen. Jeder Chefdirigent sollte ein möglichst breites Repertoire dirigieren. Und wenn er mit seinem neuen Orchester die alten Klassiker beherrscht und weiß, wie das Orchester funktioniert und reagiert, dann erst soll er neue Werke mit ins Programm nehmen. Die Basis eines erfolgreichen Musizierens ist Sicherheit. Und erlangen Chefdirigent und Musiker zuerst im klassischen Repertoire, also mit Beethoven, Brahms, Strauss und Mahler. Ich werde immer gerne auf russische Musik festgelegt, aber das ist gar nicht meine persönliche Priorität. Ich habe so viel russische Musik dirigiert, dass ich froh bin, auch ein anderes Repertoire machen zu dürfen. Ohnehin hatten Previn und Maazel dieses russische Repertoire gut abgedeckt, so dass ich es nicht unbedingt machen musste (lacht). Ich habe in Pittsburgh anfangs also ein sehr ausbalanciertes und breites Programm dirigiert, das russische Repertoire kam dann etwas später.
Gab es auch etwas, was Ihnen am Herzen lag und was Sie in Pittsburgh nicht durchsetzen konnten.
Nein, eigentlich nicht. Aber es war am Anfang gar nicht so leicht. Weil eben die Beziehung der Amerikaner zur Musik ganz anders ist, als in Europa. Ich hatte mein Bild von der Musik und die Pittsburgher Musiker ihres. Und es war nicht immer einfach, meine Wünsche verständlich zu vermitteln. Ich musste auch lernen, andere Prinzipien und ein anderes Musikverständnis zu respektieren. Aber wir haben uns schließlich gefunden und ich glaube sagen zu dürfen, dass wir tolle Konzerte gespielt haben. Die absolute technische Perfektion des PSO kombiniert mit meiner Emotionalität war am Ende an sich eine gute Mischung, von der alle profitierten, auch das Publikum.
Im Vergleich zu den Orchestern aus Oslo, London und St. Petersburg haben Sie damals nur wenig mit dem PSO aufgenommen. Warum eigentlich?
Es waren Zeiten, da haben sich die amerikanischen Orchester entschieden, keine Platten zu machen, weil die Plattenfirmen nicht genug zahlten. Aber es war wichtig, die Musiker davon zu überzeugen, wie wichtig Platten- oder CD-Aufnahmen für ein Orchester sind, insbesondere, wenn es international wahrgenommen werden will. Aber Gottseidank hat sich diese Situation momentan stark gebessert. Aber das PSO und ich haben eine sehr gute 8. Symphonie von Shostakovich aufgenommen.
In Ihrer Gesamtaufnahme der Shostakovich-Symphonien, zu denen auch diese Achte aus Pittsburgh gehört, arbeiten sie mit acht verschiedenen Orchestern. Eher Zufall oder wurden die Orchester speziell für dieses Projekt ausgewählt?
Das war schon eine bewusste Entscheidung. Ich wollte eigentlich zeigen, dass Shostakovich ein universeller Komponist ist und seine Musik überall in der Welt sehr gut interpretiert und gespielt wird. Nicht nur in Russland. Deshalb haben wir uns für acht der besten Orchester der Welt entschieden.
Shostakovich ist ja ein Komponist, der Ihnen sehr am Herzen liegt. Wie haben Sie seine Rezeption in den USA erlebt, wenn man ja weiß, dass amerikanische Orchester und Dirigenten ein sehr eigenes Interpretationskonzept von russischer Musik haben?
Sehr positiv und sehr gut. Ehrlich gesagt hatte ich das nicht unbedingt erwartet. In Pittsburgh kannte man die Achte beispielsweise kaum, deshalb hatte ich vor dem Konzert eine Einleitung für das Publikum gemacht. Es ist wichtig, gerade komplexe Werke dem Publikum kurz vorzustellen. Ich habe auch einmal das selten gespielte Klavierkonzert von Arnold Schönberg in Chicago dirigiert. Damals hat der Pianist Emanuel Ax ebenfalls eine Einleitung dazu gemacht. Man sollte von dieser Arroganz wegkommen, dass wir Musiker uns zu dafür schade sein sollen, uns in solchen Fällen persönlich an unsere Zuhörer zu wenden. Ein gutes Verständnis fördert ein präziseres und aktiveres Hinhören. Und das erwarten wir uns ja vom Publikum.